Vom Boom zum Bürgerkrieg

Vom Boom zum BOLBeq<qea Steyr 1914 bis 1934 museum arbeits weit L__---==---- steyr

Eine Ausstellung als Befragung einer Stadt Florian Wenninger 6-7 ,,Hoffentlich drahn's eam des o" Februar 1934 in Steyr Christa Hager 21 -23 Steyr 1914-1934 im europäischen Kontext Oliver Rathkolb im Gespräch mit dem Museum Arbeitswelt 8 - 11 So fern - und doch so nah Was wi r aus der Zeit von 1914 bis 1934 lernen können Robert Hummer 24-27 Vom Boom. zum BOLBeq<l!ea Steyr 1914 bis 1934 Chronologie der Krise Raimund Locicnik 12 - 20 1und20 Textfelder im Stadtleben 28-29

Steyr 1914 bis 1934 - eine Zeit der Extreme voller Gegenwartsbezug Das Gedenken der historischen Einschnitte 1914 und 1934 bietet die einzigartige Chance, zu zeigen, was das Museum Arbeitwelt tatsächlich ist: Ein Haus, das sich zeitgemäß mit Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem auseinandersetzt und zugleich Kommun ikations- und Erlebnisort für alle Interessierten ist. Die Ausste llung Vom Boom zum Bürgerkrieg: Steyr 1914 bis 1934 nimmt 100 Jahre Kriegsausbruch zum Anlass, um die vielschichtigen gesellschaftli chen Entwicklungen zu thematisieren, die auf lokaler Ebene einen industriellen Boom und später die wi rtschaftliche Krise begleiteten. Mit der Expansion der Steyr-Werke wird die Reg ion zu einer der größten Waffenschmieden Europas. Zug leich ist die Stadt Sinnbild für die Not der Zwischenkriegszeit, für die sozialen , politischen und kulturellen Auseinandersetzungen der jungen Republik, an deren Ende die Februarkämpfe 1934 stehen. Die Relevanz des Themas ergibt sich heute nicht nur aus dem Umstand, dass die Konfli kte der 1920er und 1930er Jahre prägend waren für das politische System der zweiten Republik, sondern auch aus dem Umstand, dass eine schwere Wirtschaftskrise den Ausschlag fü r die Eskalat ion der Vom Boom zum Bürgerkrieg: Steyr 1914 bis 1934 Projektträger Museum Arbei tswelt Steyr Wissenschaftlicher Kurator: Florian Wenninger Arch itekt: Manfred Lindorfer Co-Kurator/ innen: Katrin Auer, Robert Hummer, Philip Tempi , Udo Wiesinger Recherche: Bernadette Dewald, ChristinaFelmann , Jutta Fuchshuber, Wolfgang Gerstenecker,Wolfgang Hack, Martin Hagmayr, Gabriela Petrovic, Markus Rachbauer, Ernst Schönberger Techni k: Mike Glück, Karl Wieser, Gerald Wörister Ausstellungsgrafik: Gottfried Hattinger Druck: Christian Schepe Werbekonzept & Grafikdesign: Andreas Mares Entwicklungen gab. Ähnliche Phänomene lassen sich durchaus auch heute in denjenigen Staaten beobachten, die durch die gegenwärtige ökonomischeTalfahrt schwer in Mitleidenschaft gezogen werden. Der Blick indie Vergangenheit einer oberösterreichischen Stadt ist indieser geweiteten Perspektive nicht nur einer über die Grenzen des eigenen Lebensumfeldes hinaus, sondern auchein durchaus ambivalenter Blick nach vorne. Die Herausforderung der Ausstel lung liegt darin, die wechselseitigen Wirkungen von Wirtschaft, Pol itik und Gesellschaft in der Vergangenheit herauszuarbeiten, mit der Lebensrealität der Besucher/i nnen zu verknüpfen und invielfältiger We ise erfahrbar zu machen. Als Zeitreise für alleSinne erzäh lt die Ausstellung von starken Frauen und verunsicherten Eliten , desi ll usionierten Soldaten und militanten Arbeitslosen, hungernden Kindern und „neuen Menschen". Außerhalb des Museums setzt die Installation 1und20 das Thema im gesamten Stadtraum mi t Textfeldern fort, dieAlltag, Ereignisse und Codes der 21 Jahre der Extreme an historisch bedeutsamen Plätzen markieren, die voller Gegenwartsbezug si nd .

Wir danken den privaten und öffentlichen Leihgeber/innen für Ihre Unterstützung: Archives of the Royal College of Surgeons of England Bundesrealgymnasium Steyr Deutsches Historisches Museum Diözese Linz Kunstreferat Fondazione Museo storico del Trentino Geldmuseum der Oesterreichiscl1en Nationalbank Gerberei Rudolf Artner Heeresgeschichtliches Museum K.u.k. wehrtechnische Studiensammlung Braunau Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch Naturhistorisches Museum Wien Oberösterreichiscl1es Landesarchiv Oberösterreichiscl1e Landesmuseen österreichisches Filmmuseum österreichische Nationalbibliothek Bildarchiv Stadtarchiv Steyr Stadtpfarre Steyr Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung Vorwärts Steyr Wiener Filmarchiv der Arbeiterbewegung Wiener Stadt- und Landesbibliotl1ek Purgi Bimminger Ingrid Deuschl Helga Girod Wolfgang Hack Will1elm Hübsch Heinz Kern Robert Kriechbaumer Helmut Lackner Guido Mairunteregg Gunter Mayrhofer Hans Payrleithner Karl Reinprecl1t Ernst Scl1imanko Ernst Scl1önberger Andreas Spanring Josef Stockinger Für die engagierte Unterstützung bei der historischen Recherche und Realisierung der Ausstellung dankt das Museum Arbeitswelt herzlich: Johannes Angerbauer-Goldl1off Roland Bachleitner Ruth Berger Klaus Birngruber Hedwig Bittermann Barbara Blaha Friedrich Brancll Daniela Cecchin Lore und Günter Decker Paul Dvorak Bettina und Tim Ebner Alexandra Engelbrechtsmüller Andrea Eu ler Eveline Figl Maria Friessner Jutta Fuchshuber Harald Gebeshuber GeraldGmachmeir Gertraud und Günter G111acl1111eir ClaudiaGrammer Kurt Greussing Amata Grüner Wolfgang Hebenstreit Jörg Hofmarcher Erika Hübsch Tl10111as ll111ing Klaus Lehner Raimund Locicnik Robert Karig l Louise King lrene Klinglmaier Julia König Gerl1art Marckhgott Ruclolf Meidl Ernst Mikschi Rosi Muttent11aler Brigitta Neubauer Waltraud Neul1auser Dieter Perkonigg Ernst Pimingstorfer Ulrike Polnitzky Herbert Pasch Erwin Pöschl Martin Prieschl Ludwig Pulli rsch Franz Plihringer Kar l Ramsmaier Stephan Rosinger Richard Rudolf Viktoria Sch iller Peter Schönberger Joschi und Thomas Schuy Silvie Sornasgutner Angela Stockhammer Michael Stockinger Pablo Summer Otto Treml Georg Wasner Ar111 ineWehdorn Peter Weidner Marius Weigl Claudia Wimmer Judith Wimmer Regina Woniscl1 Monika Würthinger lnge Wurzer

Eine Ausstellung als Befragung einer Stadt Florian Wenninger Die Geschichte einer Stadt gibt es nicht. Schon deshalb nicht,weil keine Stadt für sich allein existiert. Erst recht keine, die wie Steyr lange Zeit vor allem vom Waffenbau lebte. Die Auftragslage der Rüstungsindustrie war und ist immer eng verbunden mit internationalen Krisen und Konflikten.Eine Ausstell ung, diedie Geschichte Steyrs zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Beginn des Austrofaschismus erzählt, muss weiter ausholen, sie kommt nicht aus ohne die Einbettung in einen größeren politischen Rahmen. Gut gefüllte Auftragsbücher verraten für sich genommen wenig darüber, wer am Ende profitiert. Eine Geschichte der Stadt aus der Perspektive der Arbeiterschaft sieht anders aus als von der Warte der Fabrikbesitzer und Aktionäre. Um beide Erfahrungswelten zusammenzuführen , muss man sich lnteressensgegensätzen zuwenden, die nicht nur die Sicht auf den jeweils anderen prägten , sondern vor allem auch das eigene kulturelle und politische Selbstverständnis maßgeblich beeinflussten. Es ist erstaun lich , wie sehr die Geschichte des Ersten Weltkrieges auch noch nach hundert Jahren auf die militärischen Vorgänge beschränkt bleibt. Zweifellos hatte das Fronterlebnis enorme Auswirkungen auf eine ganze Generation von Männern. Aber was war mit der Bevölkerungsmehrheit, die nicht in die Schützengräben zog? Wie wirkte es sich auf Frauen aus, erstmals eigenes Geld zu verdienen? Wie veränderte sich der Alltag der Kinder, die stärker als je zuvor sich selbst überlassen blieben? Was erfuhr die Heimat von der Front? Wie versuchten die Menschen mit dem immer höheren Leistungsdruck in den kriegswichtigen Unternehmen umzugehen - vor allem aber auch mit der sich stetig verschlechternden Lebensmittelversorgung? Im Herbst 1918 endete das massenhafte Sterben an den Fronten. Waren die, die nun wieder kamen, die Gleichen, die einst in den Krieg gezogen waren? Was brachten sie mit, sichtbar und unsichtbar? Und: Wen trafen sie zuhause an? Welche Erfahrungen und Hoffnungen, aber auch welche Ängste bestimmten Denken und Handeln der Menschen in der Nachkriegsgesellschaft? Die traditionellen Eliten, vom Adel über das Mi litär bis hin zur Kirche sahen sich in der jungen Republik einem rasanten Autoritätsverlust ausgesetzt. Zugleich erreichte die Arbeiterbewegung eine bis dahin ungekannte Größe. Wie verhielten sich beide Seiten zueinander und in welchen Fragen prallten die Gegensätze besonders heftig aufeinander? Die größte Bedrohung der Rüstungsindustrie ist per Definition der Friede. Der wichtigste Arbeitgeber der Stadt , die österreichische Waffenfabriksgesellschaft , hatte durch die intensive Aufrüstung vor dem Ersten Weltkrieg einen enormen Aufschwung erlebt. infolge des Waffenstillstandes und der Rüstungsbegrenzungen, zu denen sich Österreich in den Friedensverträgen verpflichtet hatte, schlitterte das Unternehmen und mit ihm die Stadt in eine zwanzig Jahre währende Dauerkrise. Welche Strategien wurden entwickelt, um Auswege aus dieser Misere zu finden? Das boomende Steyr der Jahre 1912 - 1914 wurde in der Zwischenkriegszeit zum Inbegriff von Armut und Perspektivenlosigkeit. Zwar gelang es der Waffenfabrik bis Ende der 1920er Jahre, sich auf niedrigem Niveau zu stabilisieren, doch mit der Weltwirtschaftskrise war auch diese bescheidene Blüte wieder dahin. Schließlich war die Stadt im Jahr 1931 endgültig bankrott. War die Ernährungssituation für weite Teile der Bevölkerung schon bis dahin prekär gewesen, wurde sie zu Beginn der 1930er Jahre katastrophal. Hunger war nun endgültig kein Minderheitenphänomen mehr, sondern alltäglich: Neun von zehn Steyrer Kindern waren unterernährt.

Mitbedingt durch die hohe Arbeitslosigkeit und die allgemeine Not war Steyr schon in den 1920ern Brennpunkt des Kulturkampfes zwischen der sozialdemokratisch organisierten Arbeiterbewegung und dem bürgerlichen Milieu. Ab Mitte 1932 ging der christlichsoziale Bundeskanzler Dollfuß planvoll an die Errichtung einer Diktatur. Sein „Staatsstreich auf Raten" zog sich über einei nhalb Jahre hin und endete schließlich mit der Niederschlagung eines verzweifelten, unkoordinierten Aufstandes von Teilen der sozialdemokratischen Basis im Februar 1934. Abermals war Steyr eines der Zentren der Auseinandersetzungen. Im Zuge der tagelangen Kämpfe beschoss das Bundesheer die Arbeitersiedlung auf der Ennsleite mit Artillerie, ein gefangengenommener Schutzbündler, Josef Ahrer, wurde durch ein Standgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet. Zurück blieben mehrere Todesopfer auf beiden Seiten und ein tief empfundenes gegenseitiges Misstrauen, das noch Jahrzehnte fortdauerte. DieAusstellung „Vom Boomzum Bürgerkrieg" spürt dieser Ära nach, indem sie die Erfahrungszusammenhänge der sogenannten „ei nfachen" Menschen ins Zentrum rückt. Die große Politik bildet einen wichtigen Rahmen, im Fokus stehen aber die alltäglichen Dinge des Lebens, die Perspektive von Menschen wie dir und mir. An mehreren Punkten beschränkt sich die Darstellung nicht auf Nacherzählung. An mehreren Punkten der Ausstellung sehen sich Besucherinnen und Besucher auch genötigt, selbst Position zu beziehen. Viele Fragestellungen und Probleme, die Menschen in Steyr zwischen 1914 und 1934 beschäftigten, sind schließlich weder zeitlich noch örtlich auf die Stadt beschränkbar, wirken bis heute. Unabhängig davon, wo und wie wir se lbst heute leben, ist es deshalb ein Teil unserer eigenenGeschichte, der wir uns gegenüber sehen. Fotos: Museum Arbeitswelt Beschuss der Arbeiter-Wohnsiedlung Ennsleite, Februar 1934.

Steyr 1914-1934 im europäischen Kontext Ol iver Rathkolb imGespräch mit dem Museum Arbeitswelt In zwanzig Jahren entwickelte sichSteyr von der „Waffenschmiede Europas" zum „Armenhaus Österreichs". Um die Geschehnisse der damaligen Zeit zuverstehen, ist es notwendig, sie in einem größeren - europäischen- Kontext zu sehen und Verbindungenvon der lokalen zur großen Bühne der Weltgeschichte herzustellen. MAW: Wie kann das Ende des Ersten Weltkrieges und der Beginn der Ersten Republik aus heutiger Sicht begrifflich verortet werden? Gibt es eine Alternative zum konservativ geprägten Narrativ des Zusammenbruchs bzw Otto Bauers Rede von der österreichischen Revolution? Rathkolb: Eine genaue Analyse des Herrschaftsüberganges zeigt, dass es sich um einen von den drei bereits vor 1918 vorhandenen politischen Parte ien (Christl ichsoziale, Großdeutsche und Sozialdemokraten) moderierten und verregelten Machtübergang handelte, wobei die Tendenz zueiner funktioni erenden Konzentrationsregierung auch durch dieAngst vor einer „Rätereg ierung", einer „bolschewist ischen Revolution" nach russischem Muster geprägt wurde. Aus diesem Kontext heraus sind revolutionäre sozialpol itische Gesetze , ei ne fortschrittliche Verfassung mit Schwergewicht auf die repräsentati ve parlamentarische Demokratie 1920 sowie das Frauenwahlrecht erkl ärbar. Die erste echte freie und demokratischeWahl , an der erstmals Frauen teilnehmen konnten , wurde am 16. Februar 1919 durchgeführt - mit relativ hoher Wahl beteil igung (82 ,10% bei den Frauen und 86,97% bei den Männern). Dabei konnten sich dieCh ri stlichsozialen als die Frauenpartei etablieren, wohingegen die Sozialdemokraten noch weniger als dieGroßdeutscheVolkspartei für Frauen damals wählbar waren . Der Wahlkampf war kurz und heftig , die Sozialdemokratie trat für ein neues Gesell schaftsmodel l und den Beginn des „Kl assenkampfes", d.h. die Fortsetzung der ideologischen Entwicklung vor 1914, ei n. Die katholische Kirche hingegen stützte massiv die Christl ichsozialen. 1919 konzentri erten sich dieChristlichsozialen in der Wahlwerbung auf „Bauern und Gewerbe", Kampf gegen eine „soziali stische Repub lik" und auf

die Metapher „christliches Volk". Immer wieder wurde das Schreckgespenst eines kommunistischen Umsturzes thematisiert und auch visualisiert. Die Sozialdemokratie forcierte dagegen die Konfrontation Volk gegen die Reichen , durch konkrete Forderungen wie Sozialisierung der Großbetriebe sowie Besteuerung des „arbeitslosen Rieseneinkommens" und machten den Kapitalismus für das Elend pauschal verantwortlich. überdies versuchte sie sich als „die" Friedenspartei zu positionieren, gegen einen neuen Krieg. Die Deutschnationalen hingegen forcierten Xenophobie und betonten den Anschluss an Deutschland. Bemerkenswert ist , dass das „Wah lprogramm" der ersten „deutschen nationalsozialistischen Arbeiterpartei ", die in einigen Wahlkreisen kandidierte, bereits festgeschrieben war und Ende der 1920er und auch in den 1930er Jahren von den Grundbotschaften her unverändert blieb, obwohl die Führungsgruppen gewechselt hatten: ,, .. .demokratisch, freiheitlich und national , daher streng antisemitisch im Sinne der Bekämpfung des überwuchernden jüdischen Einflusses auf allen Gebieten des wirtschaftlichen, öffentlichen und kulturellen Lebens. Von der Sozialdemokratie", heißt es weiter, ,, trennt die Partei ihre streng völkische Gesinnung, ihre Ablehnung jeder Partei- oder Gewaltherrschaft und die Produktion gefährdender Umsturzbewegungen sowie ihre prinzi pielleAnerkennung des Privateigentums... ". Was zu Wahlerfolgen fehlte, war aber das geeignete politische Umfeld und die entsprechende Einbindung in den Erfolg der NSDAP Hitlers in Deutschland . Vorerst hatten die Wahlen der Sozialdemokratie einen Wahlerfolg gebracht, aber wie die folgenden Koalitionen und Wah lergebnisse zeigen, einefür die politische Kultur Österreich sign ifi kante Mehrheit in Richtung Mitte rechts festgeschrieben . Auch blieb die Sozialdemokratie in der Ersten und auch in der frühen zweiten Republik bei rund 40%Stimmenanteil stecken. Erst Bruno Kreiskys Wahlprogramm und strategisches Konzept erzie lte 1971 eine temporäre Änderung in Ri chtung einer knappen sozialdemokratischenMehrheit über 50% bis 1983 . MAW: Die Gemeinderatswahlen 1919 und der neu gewählte sozialdemokratische Bürgermeister Wokral brachten der Stadt Steyr eine politische Repräsentanz, die der gesellschaftlichen Zusammensetzung der Bevölkerung entsprach.Die wirtschaftliche Krise ließ die Stadt verarmen und brachte die Bevölkerung an ihre existenziellen Grenzen.Demokratie musste unter den ökonomisch härtesten und ungünstigsten Umständen gelebt werden. Streiks, Hungerkrawalle etc. prägten diese Zeit und kennzeichneten den sozialen Aufruhr. War Steyr widerspenstiger als andere Städte in Österreich und Europa? Rathkolb: Steyr war durch den relativ hohen Grad an Industrialisierung und durch eine politisch aktive Arbeiterbewegung geprägt und hatte dadurch auch eine stärkere Resistenzkapazität als vergleichbar große Städte . Generell gilt aber die Faustformel ,dass eine größere Arbeiterklasse 9

auch ein höheres Ausmaß an Widerständigkeit gegen den rasch einsetzenden Kurs der Austerity (Hartwährungspolitik, Kürzung der Staatsausgaben, geringe Sozialausgaben etc.) mit sich brachte, die in Österreich überall von der Sozialdemokratie und nicht von den Kommunisten dominiert wurde. MAW: Zur Zerschlagung der Demokratie ist die Einbettung in den gesamteuropäischen Kontext besonders interessant. Welche Faktoren waren letztlich dafür ausschlaggebend, dass Länder wie Österreich und Deutschland in den Faschismus schlitterten, Länder wie die Tschechoslowakei, die Niederlande, Frankreich oder Großbritannien hingegen demokratisch blieben? Welche Gruppen waren in anderen Ländern die Träger und Bewahrer der Demokratie, wer ihre Zerstörer? Rathkolb: Das zentrale Element bei der Zerschlagung der demokratischen Strukturen in der Zwischenkriegszeit in Europa war die autoritäre bis antidemokratische Grundeinstellung der politischen Eliten, wobei sehr rasch konservative Gruppierungen aber auch die entmachteten Eliten die parlamentarische Demokratie als Grundübel der sozio-ökonomisch desaströsen Situation ansahen. Je geringer die Angst vor einer Wiederholung der russischen Erfahrung 1917 wurde, umso stärker wu rde auch der Ruf nach Abschaffung der Parteien und der Etablierung von führergeprägten Diktaturen , die mittels einer Massenbewegung auch scheinbar direkt legitimiert wurden. Generell waren agrarisch geprägte Gesellschaften anfälliger für faschistische bis autoritäre Entwicklungen - dies erklärt die demokratische Entwicklung in der Tschechoslowakei, den Niederlanden, Frankreich oder Großbritannien. Im Falle des deutschen Reiches sind es vor allem die starken autoritären Grundeinstellungen und die Fehleinschätzung konservativer Parteien , den „nationalen" Sozialismus der Hitler-Bewegung durch Regierungsverantwortung kontrollieren zu können. Insgesamt betrachtet wurden von vielen Experten der Zeit die „neuen Diktaturen" vor der Machtergreifung Hitlers in Deutschland 1933 nicht als echte Bedrohung der Demokratie empfunden. Typisch für die abwartende bis teilweise rechtfertigende stille Akzeptanz von kleinen Diktaturen trotz mancher kritischer Beiträge ist einer der frühesten interdisziplinären Sammelbände zu dem Phänomen der neuen Diktaturen (Bulgarien 1923, Spanien 1923, Türkei 1923, Polen 1926, Litauen 1926) der im Jahr 1930 in Wien von Otto Forst de Battaglia herausgegebene „Prozeß der Diktatur". Der österreichische Historiker, Kulturkritiker und Genealoge meinte, dass die Diktatur nicht in Deutschland, Österreich oder Frankreich , ebenso wenig wie in Großbritannien und den skandinavischen Ländern drohe. Im Falle Deutschlands und Österreichs sowie im Falle des Vichy Regimes im besetzten Frankreich sollte er sich aber gewaltig irren. Auch die Vorstellung, dass Diktaturen zwar die verfassungsgemäße Ordnung brechen , aber sich an neue Gesetze halten, traf letz11ich nicht zu. In seinem Nachwort kann durchaus eine

Chronologie der Krise Raimund Locicnik Das Jahr 1913 markiert eineZäsur in der Geschichte des Bauens, des Arbeitens und des Alltags in Steyr. Am 12. Jul i 1913 wird mit dem Bau der neuenWaffenfabrik auf den so genannten Kamme rmayr-, und Schacherlehnergründen oberhalb des altehrwürdigen Engelhofes und etwas östlich der Ennslei te begonnen. Die Bevölkerung soll offensichtlich bis zum unübersehbaren Baubeginn uninformiert bleiben. Erst in der Ausgabe vom 13. Juli 1913 vermerkt der „Alpenbote" in einem unscheinbaren Dreizeiler: ,,Steyr, am12. Juli 191 3 - Heute wurde der Bau der neuenWaffenfabri kobjekte der Firma Wayss & Freitagaus Wien übergeben"1 . Nur vier Tage später meldet sich die Baufirma selbst mit einer etwas anderenAufmachung im Alpenboten zu Wort. In einer ganzseitigenAnzeige wird der Bevölkerung in großen Lettern kl ar gemacht, was Sache ist: ,,Eswirdbekannt gegeben , dass mi t denBauarbeiten fü r die neue Waffenfabrik bereits begonnen wurde und das Betreten des Bauplatzes strengstens untersagt ist". Ab diesem Ze itpunkt ist in Steyr nichts mehr, wie es einmal war. In Stuttgart krempelt sich indes der bereits über fünfzigjährige Industri earchitekt Philipp Jakob Manz die Ärmel hoch, um sein bisher größtes und innovativstes Projekt zu realisieren. Er kreiert einen neuen Begriff, der in Zeiten aufziehender Kriegsgelüste mehr zähl t als jede Ästhetik und Kunstfertigkeit: die „Blitzarchitektur". Als einziger fühlt sich Manz in der Lage, die festgelegte, fast irrational ersc l1einende Bauzeit von 260 Tagen für die Aufrichtung vonsechzehn Objekten auf 90.000m2 Fläche in Steyr zu erfü ll en.2 Architekt Philipp Jakob Manz (links) besichtigt die Baustelle der neuen Steyr-Werke, 1913. Quelle: Stadtarchiv Steyr Leben,Wohnen undAlltag in Steyr ist abdiesem Zeitpunkt nicht mehr von der neuen Fabrik zu trennen. Alle Bereiche der ruhigen, fast verträumten , 18.000 Einwohner zäh lenden Stadt werdenvonnun an durch die Aufst iegsund Fallphasen des Großunternehmens geprägt. Schon im Juli 191 5 erhöht sich die Bevölkerungszahl auf 26.000 und ist ständig im Steigen begriffen. Eine Volkszählung im Oktober 1916 ergibt eineSumme von 29.840 Einwohnern , die Kriegsgefangenen nicht mitgerechnet. Der feh lende Wohnraumwird zu einemunerbittlichenProblem. 1 AB 1913, Nr. 56, S.3 2 Renz Kerstin: Industriearchitektur im frühen 20. Jh. , S.52 und 62ft

Doch zurück zur Großbaustelle der Waffenfabrik: In zwei Etappen werden die 16 riesigen Objekte gebaut. Maschinen und Menschen sind nahezu Tag und Nacht imEinsatz. Die Rationalisierung der Baustelle ist in Steyr auf einem neuen Höhepunkt angelangt. Es gil t, die Tätigkei ten von bis zu 3.500 Arbei tern zu koordinieren. Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem Zusammenhang, dass ab Beginn des Weltkrieges die Steyrer Baustelle großtei lseiner Strafkolonie ähnelt, in der hunderte von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen zum Einsatz kommen . Am 26. Mai 1914 schreibt die ÖWG an die Stadtgemeinde: ,, In Erledigung der hochgeschätzten Zuschrift vom 15.d.M. beehren wir uns, die Mitteilung zu machen , dass wir mit unserer neuen Fabrik tei lweise bis Ende dieses Jahres in Betrieb zu kommen hoffen und auch die neuen Arbeiterwohnhäuser bis zu diesem Zeitpunkt bewohnt sein dürften. (.. .) Der derzeitige Arbeiterstand unserer Fabrik beträgt 6. 700 Mann und sind außerdem 191 Beamte in Steyr in unseren Diensten"3. Für dieGestaltung der ersten dreiArbeiterwohnhäuser, die vomdeutschen Architekten Oskar Schwer markant und unübersehbar an die Geländekante der hohen Ennsleite gebaut werden, findet Phillipp Jakob Manz einen kongenialen Weggefährten. Manz und Schwer setzen auf eine Mischung aus Tradition, Modernität, Repräsentanz und Funktionalität, die „niemanden zu angeregten oder Zeit verzögernden Diskussionen veranlassen soll ". Ihre Bauten haben seriellen Charakter. Sieerscheinen Stil neutral und auf seltsame Weise wehrhaft und trutzig.4 ;.- ..'!'/ ::'y1 - •" II -{/.._ •.,_ '/ // _;z,;/ _,r, .. "· - .L... ,:...,..J._.c'""'r {. :t1~1~.~¼t' J.:t:::J;: ri""r ,'.. 'l..,,... . ~ ,(/,,,c„7 Entwurf der Arbeiterwohnhäuser auf der Ennsleite, genehmigt durch Bürgermeister Julius Gschaider am 26. Februar 191 3. Quelle: Stadtarchiv Steyr Unmittelbar nach Kriegsausbruch übernimmt die Militärbaubehörde die weitere Ausführung der Wohnraumbeschaffung in Steyr und die ,,wirklich schönen Pläne für die Verbauung der Ennsleite als Gartenstadtsiedlung"5 fallen trotz des massiven Protests von Bürgermeister Julius Gschaider ins Wasser. Aus Sparsamkeitsgründen wird ab 1915, zunächst in Letten, mit dem großangelegten Bau von Barackensiedlungen begonnen . 1916 und 1917 folgt der Bau von weiteren „Arbeiter Wohnbaracken" im Stadtgebiet von Steyr. Die Anzahl der Arbeiter und Arbeiterinnen in der Waffenfabrik hat mittlerweile einen Höchststand von knapp 16.000 erreicht. Bis zum Ende des Weltkrieges entstehen in Steyr annähernd 100 Barackenbauten, deren Umfeld in keiner Weise den hygienischen Erfordernissen entspricht. Schlechte Trinkwasserqualität, zu wen ige und mangelhaft ausgeführte Toilettenanlagen und die viel zu dichte Verbauung sorgen schon baldnachVoll belegung der „improvisorischenStil errichtetenLager" für denAusbrucheiner Typhusepidemie. Um sieindenGriff zu bekommen, lässt die Behörde in Ramingsteg bei Steyr eine weitere Barackenanlage zur Evakuierung und Behandlung der Kranken erbauen. Eine extra dafür aufgestellte „Mi litär-Sanitätswachmannschaft" bekommt ihr Domizil in „sechs großen Feldbaracken" auf der Ennsleite.6 Sie soll zumindest in der Fabrik penibel und rigoros die Einhaltung der Hygienevorschriften kontrollieren. Doch was dem Werk gut und billig ist, das können die Menschen in Steyr privat nicht einmal mehr ansatzweise erfü llen. Zu sehr fehlt es am Notwendigsten. Die Waffenfabrik darf sich indes über einen Reingewinn von 18.345.188 Kronen freuen. Bürgermeister Gschaider scheint die Zeichen der Zeit richtig zu erkennen und bemüht sich intensiv und mit allenMitteln, gegen die Verelendung der Stadt zu steuern. ImOktober 1917 lässt er ein 10 Mi ll ionen Darlehen beschließen, um jene Gefahren zu bannen, die der Kommune durch den Krieg und speziell durch die industrielle Monostruktur drohen. Als besonders vordringlich zählt er im Gemeinderat den Wohnhausbau , den Wasserleitungsbau, die Kanalisierung, die Abfall- und Fäkalienentsorgung , den Bau einer Infektionsabteilung, sowie die Errichtung eines Schlachthauses und zweier Schulen auf. Doch fast alle Projekte ersticken in den Wirren des untergehenden Reiches, in der galoppierenden Inflation und dem Mangel an freien Arbeitskräften. 3Bauakt H/g 25445-1913, Nr.15 4 Renz: Industriearchitektur, S. 1O 5Gschaider: Erinnerungen, S. 17 6Bauakt H/g1909-1914, Nr. 2,Verwaltungsarchiv Steyr 13

Die Eintragungen des Chronisten der Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender klingen wie ein Staccato des unvermeidbaren Niedergangs: Oktober 1917: Um Heizmaterial zu sparen, wi rd in den Volksschulen Unterrichtsunterbrechung eingeführt. Anfang Dezember wird eine Bestandserhebung der Vorräte an Most,Mostessig, Kraut,Obst,Rüben und Zwiebel angeordnet. Wald- und Holzbesitzer müssen ihre Besitzstände der Stadt bekannt geben. Der An- und Verkauf von Schuhen ist nur noch mit Bedarfsbescheinigung möglich. Der Magistrat führt eine Lustbarkeitsabgabe ein, um aus öffent lichen Unterhaltungsveranstaltungen (die nur mehr von wenigen begüterten Personen besucht werden können) etwas Geld in die leere Stadtkasse zu bekommen . Das Gaswerk und die Waffenfabrik müssen den Betrieb wegen Kohlemangel einstellen. Die gesamte Arbeiterschaft , insgesamt 13.200, bekommt zunächst noch bezahlten Urlaub. Die Einwohnerzahl von Steyr wird imDezember 1917 mit 36.000 angegeben . .,Die mehr als bescheidene Zuweisung von Lebensmitteln auf die (.. .) Karten reicht nicht aus zum einfachsten Lebensunterhalt. infolge der rücksichtslosen (... ) Eingriffe in den ohnehin verm indertenViehbestand wird dieMilchknappheit(... ) immer mehr gesteigert. Das Brot wechse lt fast täglich seine Farbe bis zum Eidottergelb infolge des zugegebenen Maises. Die Mehlquote ist gekürzt, die Zuckermenge verringert. Statt echten Kaffee gibt es 'Kriegskaffee' (ausZichorie). Die Teuerung beträgt nahezu 300%" , klagt der Chronist.? In vollster Blüte steht in jenen Wochen und Monaten der Schleichhandel. Zucker, Seife, Petroleum,Tabak oder Kerzen sind die Tauschobjekte für Butter, Eier und Fleisch . Die Stadt Steyr beschlagnahmt im Juli 1918 die gesamte Kartoffelernte und erlässt die Kundmachung, dass zu einer Mahlzeit pro Person und Tag maximal 11 dkg Rindfleisch oder Fisch in Gaststätten abgegeben werden dürfen. Die Verordnung hinkt allerdings der Realität bei weitem nach . ., Die tatsächliche Menge an Fleisch liegt bei maximal 8- 10 dkg und ist nur an manchen Tagen für einige Glückliche zu haben" B. Mitten in diese katastrophalen Zustände platzt im Juni 1917 die überraschende Anweisung der militärisch-technischen Baubehörde, dass auf der Ennsleite unverzüglich mit dem Bau von 32 gemauerten Arbeiterwohnhäusern zu beginnen sei. Über die Hintergründe zu diesem plötzlichen „Baubefehl " lässt sich nur spekulieren. Gleichzeitigmit dem überraschenden Bau der Großsiedlung „Ennsleite", geht der Krieg in seine Endphase. Die einst hochgeachteten Soldaten der k.u.k. Armee werden dabei zum reinen Menschenmaterial degradiert und in die sinnlosestenSch lachten geworfen. Im letzten Kriegsjahr sind es durchwegs nur mehr Reservisten , die an den Fronten stehen. Erstmals in einem Krieg wird der Begriff „verbrauchte Soldaten" verwendet und in der Tat si nd sie nichts anderes als unerfahrene, manchmal furchtsame junge Männer, Bauern , Handwerker, Studenten , Angestellte und Arbeiter, die brutal aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen und in die letzten Schlachten geworfen werden. Seit 1916 decken die zugeführten Marschformationen nicht einmal mehr die Verluste ab, obwohl die Heeresführung alles einberuft, was eine Waffe halten kann. So unvorstellbar grausam und brutal die Verhältnisse an den Kriegsschauplätzen gewesen se in müssen, stehen jene im Hinterland an Dramatik und Irrwitz um nichts nach .Der Alltag hat längst aufgehört, als solcher zu existieren. Jetzt geht es um das nackte überleben. Ab dem Sommer 1917 werden die Felder bewacht, um Plünderungen zu verhindern. Der Gegensatz zwischen Stadt und Land eskaliert. Die Bevölkerung in den Städten wirft den Bauern vor, dass sie keine Opfer brächten und dass ihr Patriotismus nicht über die Gemeindegrenze hinausreiche. Die Polarisierung der Gesellschaft schreitet unaufhaltsam voran. Ab Jänner 1918 treten immer mehr Arbeiter in den Ausstand. Allein in Wien legen Anfang des Jahres bis zu 500.000 Menschen ihre Arbei t nieder. In Steyr streiken die Arbeiter der Waffenfab ri k, der Firmen Rei thoffer, Huber,Winternitz Neffen, Gebrüder Heller, Bürsten Mayr und FranzWerndls Nachfolger in Unterhimmel.9 Immer öfter gibt es Rebel - lionen und Meutereien bei den Ersatzmannschaften in den heimischen Kasernen. Es folgen Plünderungen , Schi eßereien und sch ließlich Standgerichte, bei denen relativ willkürl ich mutmaßliche Rädelsführer exekutiert werden. Der Kreis schließt sich. Die Monarchie hört auf zu existieren. Am 20. Oktober 1918 wird die Republik Deutsch-Österreich ausgerufen. Am 26. März 1919 nimmt Julius Gschaider, der Neffe Josef Werndls und Bürgermeister von Steyr seinen Hut und überlässt den siegreichenSozialdemokraten die höchste Position in der Stadt. Am 25. Mai 1919 wird Josef Wokral als erster sozialdemokratischer Bürgermeister von Steyr angelobt. Er übernimmt kein leichtes Erbe. Die 20er Jahre beginnen, wie das vorangegangene Dezennium geendet hat: Bittere Armut, Arbeitslosigkeit, Seuchengefahr, Brennstoffmangel, galoppierende Inflation und über allem die große leere,manchmal auch unbändige Wut, die der Krieg in den Herzen und Köpfen der Menschen hinterlassen hat. Am 13. September 1919 besucht Staatskanzler Dr. Karl Renner Steyr und Bad Hall , um sich ein Bild der Lage vor Ort zu machen . An die bäuerliche Bevölkerung ergeht ein letzter und ei ndringlicher Aufruf zur Erfüllung der Lieferpflicht von Nahrungsmitteln, um die Krawalle in den Städten einzudämmen. Die Um- und Neubenennung der Straßen in Steyr ist ein erstes Anzeichendafür, dass das alteReich zumindest ver7 SIK. 1919, S.66ff. 8 SIK. 1919, S.80 9 SIK. 1919, S. 70

waltungstech ni sch „ad acta" gelegt wi rd. Im Frühjahr 1920 zieht ei ne Grippewelle in das Land, die vermut lich aus der so genannten „SpanischenGrippe" des Jahres 1918 hervorging und in Oberösterreich tausende Menschen tötet. 1o Das Jahr 1921 ist in den Bezirken Steyr, Steyr-Land und Kirchdorf geprägt von zah lreichen Enthüllungen und Weihen der Kriegerdenkmale. Schmerzvoll und oftmals nicht ohneWut und Hass gedenkendie Hinterbliebenen der toten „Helden". Ein Teil des Alltagsbil des sind auch die vielen bunten und teilweise orig inell gestalteten Notgeldscheine aus den einzel nen Gemeinden. Die Buchdruckerei Haas in Steyr wirbt mit dem Inserat: ,,Erste und größte Steyrer Notgeld-Zentrale, Steyr-Grünmarkt 7. Sämtliche Notgelder Deutsch-Österreichs sowie vom Deutschen Reiche jederzeit erhältlich"11. Hinter der Ku lisse des privaten und öffentlichen Lebens der Stadt Steyr beginnt ab 1916 die übermächtige Waffenfabrik wie ein leck geschlagenes Schiff zu schlingern und zu stampfen. Ihr Mitarbeiterstand schwankt in nur sieben Jahren (1916 - 1922) von knapp 16.000 bis 4.500. Die letz1e Entlassungswelle 1922 betrifft 2.100 Menschen, die damit neuerlich vor den Trümmern ihrer Existenz stehen. Bis zu diesem Zeitpunkt bleibt die Automobilerzeugung der Waffenfabrik durch den ständigen Kursverfall der Krone konkurrenzfähig , doch mit ihrer Stabi lisierung und den fallenden Autopreisen auf dem Weltmarkt bricht der Export auf ein Minimum zusammen.12 Ratlosigkeit herrscht deshalb auch in der Bau-, Boden- und Sozialpoli ti k der Stadt. Einmal stehen unzählige Wohnungen leer, dann sind es wieder viel zu wen ige. Mit der Verlegung der Waffenfabrik hat besonders der Stadtteil Ennsdorf großen Aufschwung genommen. 1913 - 1922 entstanden allein hier 119 neue Häuser, wobei die markantesten in der Haratzmüllerstrasse 37 und entlang der Dukartstrasse ausgeführt werden. Ab 1923 wird es ziemlich still im Baugeschehen der Stadt. Zwar errichtet die „Arbeiterbau- und Wohnungsfürsorgegenossenschaft" bis 1925 noch 85 Wohnungen, doch dem groß propagierten General-Regulierungsplan entspricht das keineswegs 13. Das Jahr 1923 markiert einen ersten und wichtigen Wendepunkt in der Entwicklung der Stadt und Bevölkerung nach dem Neubeginn. Einerseits scheinen die tiefsten Wunden des Krieges langsam zu vernarben und damit ein halbwegs erträg li cher Alltag ei nzukehren, andererseitswerdendie Töne der jeweiligen Parteien und ihrer ,,Führer" wieder hörbar aggressiver. Zwischen den Fronten der Ideologien schließen sich Menschen aller Schichten zu visionären Gruppen zusammen und träumen vom „freien und neuen Menschen". Vereinigungen wie die ,,Freidenker", der „Wandervogel", die „Flamme", der „Udebund", die „Ergograten", die „Anthroposophen", die „Lebensreformer" und die „Gemeinschaft für alkoholfreie Kultur" gründen sich und erhalten regen Zulauf. Während die Einen noch von Licht, Liebe und Aussöhnung träumen, zeigen die größeren Parteien bereits ihr wahres Gesicht und auch die Nationalsozialisten haben sich klammheimlich positioniert. Am 16. Juli 1923 kommt es im Gemeinderat zu heftigen Auseinandersetzungen wegen der Übernahme des ehemaligen „Marodenhauses" durch den Verein „die Kinderfreunde" und dessen Bestreben, ein Waisenhaus und Schülerheim darin einzurichten. Noch im Jänner wurde der Antrag für die Übergabe des Gebäudes an die Kinderfreunde mit großer Mehrheit im Gemeinderat abgesegnet, doch sechs Monate später fliegen bereits die Fetzen. ,,Bei der Berechnung der Adaptierungskosten durch die Stadt sei dem Beamten ein Fehler unterlaufen", berichtet die Steyrer Zeitung nicht ohne vorangestellte Hetz1iraden. ,,Statt der notwendigen 260 Mi ll ionen Kronen, habe er nur 26 Mil lionen veransch lagt. Die Sozialisten stellen daher den Antrag, die fehlenden 234 Millionen zu bewi ll igen und statt einer Baufirma das städtische Bauamt zu beauftragen, die Adaptierung in Eigenregie durchzuführen", heißt es weiter. Die Opposition schäumt vor Wut. Die Mandatare befetzen einander. Der großdeutsche Gemeinderat Hummer beschwert sich, dass ihn ein Sozialist als „politischen Rauchfangkehrer" beschimpft hat. Die Polemik nimmt kein Ende. Als dieLuft raus ist, steht nicht mehr die Finanzierung im Mittelpunkt der Debatte sondern die Klarstellung der Opposition, dass sie nicht gewillt sei, Kinder nach sozialdemokratischer Denkart erziehen zu lassen. Die Karten liegen auf dem Tisch. Der Referent spricht ein Machtwort und der Antrag zur Bereitstellung der 234 Millionen Kronen wird mit den Stimmen der Sozialdemokraten und der Kommunisten gegen den Willen der Opposition beschlossen. 14 Die Not der Kinder, ihr Wohlbefindenund die Obsorge für die Schwächsten der Gesellschaft ist damit zur Nebensache geworden, das Engagement der Projektbetreiber in den Hintergrund gestellt. Das gegenseitige Misstrauen ist in die Gemeindestube zurückgekehrt und wird ab jetzt prolongiert. Sieben Jahre später wird vom Bau des neuen Kinderfreundeheimes auf der Ennsleite der Schriftzug prangen: ,,Kinder heute, Kämpfer morgen". Ursache und Wi rkung gehen Hand in Hand. Auchdie Natur meldet sich 1923 nachdrücklich und nicht das letzte Mal zu Wort: Ab dem heiligen Abend präsentiert sich der Winter in seiner vollen Pracht und gleichzeitigen Härte. In der Innenstadt wird ein halber Meter Schnee gemessen und ein ständiger Abfall der Temperatur beobachtet. Am Silvesterabend erreicht die Kältewelle ihren Höhepunkt mit minus 25 Grad Celsius. ,,Das Treibeis staute sich von der Schönau bis zum Ortskai und die Enns war mit einer dicken Eisdecke überzogen", berichtet der Chronist. 15 1 O StK. 1921 ,S.891. 11StK. 1921, S. 61 12 Neubauer Helga: österr. Waffenfabriksgesellschaft, S. 169 13 Brandl Manfred: Neue Geschichte v. Steyr, S. 39 14 StZg. 1923, Nr. 7,S.4 und Nr. 82, S. 5 15 StK. 1925, S.114 • 15

■ 1 Mit der Ausrichtung der „Österreichischen Bundestagung fü r Heimatschutz" vom 9. - 13. Juli 1924 in Steyr geht die Selbstfindung des neuenÖsterreich ineine entscheidendePhase. An diesem Großereignis zeigt sich noch einmal der Versuch zur Aussöhnung und zum Miteinander, doch anschl ießend werden die Weichen unwiderruflich auf „Lagerdenken, Kampf und Polemik" umgestellt. Gregor Goldbacher, einer der Hauptakteure dieser Veranstal tung schreibt euphori sch in der Steyrer Zei tung : ,.Es ist durchaus keine Übertreibung, wenn wir feststellen, dass die Tagung in die Geschichte Steyrs mit goldenen Lettern verze ichnet werden muss,( ... ) und dass wi r mit Freude sagen dürfen: Der Heimatschutz ist in überzeugender Weise ins Volk eingedrungen". 16 Völlig anders sieht die Situation das sozialistische Steyrer Tagblatt. Dort heißt es: ,. Ein großer Teil des Volkes steht der so genannten Heimatschutzbewegung völlig fremd gegenüber, denn die Arbeiter haben (.. .) kein Vaterland , sie haben keine Heimat. Für sie verknüpfen sich mit dem Begriff Heimat nicht jene Vorstellungen, die Musiker und Dichter begeistert haben( ... )". Nach weiteren kritischen Zeilen reicht der Journalist abschließend der Gegenseite doch symbolisch die Hand, wenn er schreibt: ,.Wenn uns also die Heimatschutzbewegung die Größe der vergangenen Kul tur unseres Volkes vermitteln wi ll - und das tut sie- so begrüßen wi r sie, wenn sie berei t ist, mitzuarbeiten an der Entwicklung der Kultur im Sinne der Verwirklichung des freien Menschen, dann gehen wir mit ihr".17 Es sollte ein Wunschtraum bleiben. Mitten in die scheinbare Normalität, die den Kindern wahrscheinlich näher stand als den Erwachsenen , fällt das folgenreichste Ereignis des Jahres 1925: vom 29. September bis 25. November kommt es zu einer Aussperrung von 4.000 Mitarbeitern der Steyr-Werke, die um einen höherenLohn kämpfen. Nach wilden Kampfmaßnahmen, diezah lreichen Arbeitern den Job kosten, wird die Fabrik zwar wieder aufgesperrt, aber das Klimazwischen Generaldirektion, Betriebsräten und Mitarbeitern ist arg vergiftet. 18 Vielen Familien, die einst nach Steyr zugezogen sind , um hier eine neue Existenz aufzubauen, ist die Lebensader abgeschni tten. Umso leichter fällt es ihnen, verlockenden Angeboten nach Brasil ien und der „neuen Welt" zu folgen und Steyr für immer den Rücken zu kehren. Doch auch in Übersee ist das Leben kein Honiglecken. Bis 1931 wandern knapp 1.400 Personen , darunter großteils hoch qualifizierte Facharbeiter nach Brasilien, Kanada, USA und die Sowjetunion aus und schwächen damit die Steyrer Wirtschaft. \ Am 2. April 1926 stirbt überraschend Bürgermeister Josef Wokral. Mit seinem Tod sch ließt jener Pol itiker für immer die Augen, der nicht nur über die Parteigrenzen hinaus respektiert wurde , sondern auch die Sozialdemokratie in Steyr legitimierte und etablierte. Alssein Nachfolger wird am 3. Juli 1926 der erst 31-jährige Franz Sichlrader gewählt. Eineseiner erstenAmtshand lungen solltedie Bautätigkeit in Steyr wieder inSchwung bringen. Unter seiner Federführung stell t die Stadtgemeinde in der Nähe der Industriehalle (StadttheaterNolkskino) 13.000m2 Grund unentgeltlich für die Erbauung von Ein- und Mehrfamilienhäusern zur Verfügung. Zunächst entwirft und realisiert der Steyrer Arch itekt Franz Koppelhuber drei Arbeiterwohnhäuser in der Tomitzstraße. Mitte 1926 beginnt dann dieGemeinnützige Wohnbaugenossenschaft Steyr mit der Verbauung des Grundstückes an der Grillparzerstraße. Den gut durchdachten und gestalteten Entwurf für die Anlage, bestehend aus „einem geschlossenen Komplex mit sieben Stiegenhäusern , 74Wohnungen , 13 Geschäftslokalen und Werkstätten sowie zwei gekuppelten und einem allein stehenden Einfamilienhaus" liefern die Archi tekten Gustav Schläfrig und Hans Reiser.19 ."•·-, .. .-.,. :- .~ ,i,,.(<1~' ., t/.i/1:~ ~¾. ,r, )/~ -' ' : . • -:. -.__ ··., ,,.~J~:f'~ousr:'~~~l Wohnanlage der Baugenossenschaft Steyr in der Grillparzerstraße, 1926-1927. Quelle: StadtarchivSteyr Neben dem Bau der Wohnanlage Tomitzstraße zählt vor allem die ebenso schlichte , wie monumentale Anlage des Steyrer Krematoriums zu Koppelhubers Hauptwerken. Mit der Realisierung der Feuerbestattungshalle und dem angefügten Urnenfriedhof kommt es kurzfristig zu einer ideologischen, geistigen und spirituellen Übereinstimmung von Sozialdemokraten, Freidenkern , Planer und Stadtverwaltung, mit starker Symbolwirkung nach außen. Doch zurück zumAlltag und seinen Facetten. Wer ein Dach über dem Kopf hat und halbwegs seinen Lebensunterhalt verdient , ist in diesen ' \ SIK. 1925, S17 " StT g•., 10 07 t924, Nt 159, S: 18StK. 1927, S. 125 19Stein Erwin: Städte Deutsch-Österreichs ,Anhang Werbeteil

- 1 Tagen schon glücklich. Die Jahre von1924 bis 1927 haben den meisten ein wenig Entspannung gebracht. Die Herren der Schöpfung gehen am Wochenende zur Trabrennbahn und setzen ihr weniges Geld auf eines der Pferde . Auch manche Frauen verlieben sich in die rasenden Vierbeiner mehr, als in die Männer, die sie mit Peitschenschlägen vor sich her treiben. Zu oft erleben sie die Brutalität am eigenen Körper in Form eines All tags, der für ihre Angetrauten nur mit Alkohol und Gewalt zu bewältigen ist. Am 13. August 1927 wird in Steyr ein regelmäßiger Autobusverkehr eingeführt, der auch die nähere Umgebung mit einschließt. Mobil ität ist Ende der 1920er Jahre ein Thema, das niemanden kalt lässt. Das städtische Unternehmenfirmiert unter dem Namen „Geste" und beginnt seinen Betrieb mit fünf Bussen aus der Produktion der Steyr-Werke.20 Gegen Ende 1927 führt der Winter wieder sein strenges Regiment, doch es ist erst der Beginn des absoluten Klimahorrors. Inder Nacht zum 22. Dezember friert der Ennsfluss bei Temperaturen um minus 20 Grad Celsius auf einer Fläche von rund 40.000m2 zu. ,,Ein Ereignis, welches seit dem Jahr 1900 nicht mehr zu sehen war", berichtet der Chronist. 21 Schenkt man den Zeitungen und Chroniken Glauben ,verlaufendie Jahre von 1927 bis Mitte 1929 ingespannter Ruheund scheinbarer Einigkeit. Die Waffenfabrik kann den Mitarbeiterstand bis August 1929 wieder auf 6.300 anheben und macht im Geschäftsjahr 1927 einen Gewinn von 2.133.452 Schilling. Sogar eine Dividende wird ausbezahlt.22 (Der Monatslohn von Facharbeitern in der Metallbranche liegt im Vergleich zwischen 50 - 70 Schilling).23 Es scheint aufwärts zu gehen, doch der Schein trügt. In der letzten Sitzung des Gemeinderates im laufenden Geschäftsjahr 1928 berichtet Bürgermeister Sichlrader ungewöhnlich ernst und ausgiebig über die Finanzgebarung der Stadt. Unter anderem legt er dar, dass die Stadt dem Bund 531.518 Sch illing an Fürsorgekrediten schuldet und zusätzlich 600.000 Schilling fü r Bauprojekte aufgenommen wurden, die allerdings nicht wie beabsichtigt fü r Wohnbauten sondern für den Straßenbau verwendet werden müssen. Um Industriegründungen zu fördern , hat die Stadtgemeinde weiters 150.000 Golddollar aufgenommen, doch ist der größte Teil der unterstützten Firmen bereits wieder in Konkurs gegangen und eine Rückzahlung daher abzuschreiben. Seit 1925 hat die Stadt außerdem 2 Millionen Kronen an Lohnabgaben eingebüßt, was aus den mehrmaligen Aussperrungen der Arbeiterschaft in der Waffenfabrik resultiert.24 Sichtbar macht es erst der Winter, der sich Ende Dezember erstmals mit großer Kälte und viel Schnee zu Wort meldet. Zu Beginn des Jahres 1929 lässt er seine Zügel mit einer kurzen Tauwetterperiode noch einmal locker, doch ab 30. Jänner schlägt er unbarmherzig zu. Die Temperaturen fallen bis zu minus 35 Grad Celsius und werden die Bevölkerung bis 4. März an die Grenzen ihrer Existenz führen . Bei hohemWasserstand der Enns wurde die Gelegenheit zum Holzfischen genutzt, ca. 1930. Foto: Stadtarchiv Steyr Neben den riesigen Schäden, den zah lreichen Arbeitslosen und den ausgezehrten Menschen, die der kalte Winter hinterlässt, häuft sich der Schuldenstand der Stadt um weitere 80.000 Schill ing an. Auch die Gräben zwischen den einzelnen Gesellschaftsschichten vertiefen sich immer weiter, weil das Lagerdenken einfach keine wirkliche Solidarität aufkommen lässt. Bis zum Frühsommer entspannt sich die Lage zwar wieder ein wenig, aber die Normalität des Alltags ist nur von ganz kurzer Dauer. Die Fortsetzung der im Winter virulent gewordenen Katastrophe beginnt im Spätsommer 1929. Ummit den großen Konkurrenten am Weltmarkt wirtschaftlich mithalten zu können, beginnen die Steyr-Werke sukzessive mit Rat ionalisierungsmaßnahmen in der Automobi lproduktion. In der Folge werden innerhalbvon 14Tagen 1.000 Arbeiter entlassen und das ist erst der Anfang. InSteyr fä ll t die Anzahl der Beschäftigten in den Steyr-Werken vor dem Hintergrund der Rationalisierungen und den finanziellen Problemen der Boden-Credit-Anstalt von 6.300 im August auf 3.250 im Dezember 1929. In Anbetracht dieser Umstände verlässt der erst im Juni 1929 als „Retter der Automobilproduktion" nach Steyr geholte, charismatische Konstrukteur Ferdinand Porsche im März 1930 wieder die „Eisenstadt". Der Stadt und ihrer Bevölkerung geht es indes zunehmend schlechter und es zeichnet sich kein Licht am Ende des Tunnelsab. Ende Dezember beginnt der Magistrat sein „Fami liensilber" zu veräußern . Den Beginn macht der Verkauf des städtischen Krankenhauses und des St. AnnaSpitals. 750.000 Schill ing werden dabei erlöst undbringen kurzzeitig etwas 20 SIK. 1928, S. 86 21 SIK. 1929, S. 243 22 Neubauer, S. 169 23 Österr. Volkswirt 21 Jg., Bd. 11 , S.930 24 SIK. 1930, S.291 17

Entspannung für das Budget. WeitereEntlassungen inden Steyr-Werken ersticken aber jede Hoffnung im Keimund reduzieren den Mitarbeiterstand Anfang 1930 auf ziemlich genau 2.000, wodurchsich das Arbeitslosenpotential in Steyr auf 3.540 Personen erhöht. Die Negativspi rale beginnt sich immer schneller zudrehen. Aufgrund der ständig steigenden Arbeitslosigkei t sinkt die Lohnabgabe kontinuierlich und beträgt 1930 nur mehr dieHälfte, nämlich 387 .000 Schilling, gegenüber dem Vorjahr. Die Medien berichten zunächst österreichwei t, dann europawei t und schl ießlich sogar weltweit von den katastrophalenZuständen in Steyr. Dadurch fällt auch der eben erst zart erblühte Tourismus auf ein Minimum zurück. Der Magistrat versucht im Ei nvernehmen mit der Kaufmannschaft dieAbgabe von verbi lligten Lebensmitteln für Ausgesteuerte zu erreichen. Doch Hunger und Not steigen vonTag zu Tag .Am 24. Oktober 1931 legt der Fürsorgereferent der Stadt Anton Azwanger dieKarten auf den Tisch: ,,33% der Bewohner dieser Stadt, das sind rund 7.000 Personen, kennen einen gesättigten Magen und ein warmes Zimmer nur mehr vom Hörensagen".25 Mitten in diese dramatische und aussichtlose Zei t setzt der evangeli - sche Pfarrer von Steyr Hugo Fleischmann eine bemerkenswerte Aktion: Getragen von der Botschaft der Bergpredigt und finanziell unterstützt von Protestanten in Schweden und der Schweiz, kauft er am Fuße des Dambergs ein riesiges Grundstück und gibt ihm den Namen „Erdsegen" , viel leicht in Anlehnung an Peter Roseggers gleichnamigen Roman. Anschließend ermöglicht er zahlreichen notleidenden Steyrer Fami lien, sich auf demGrundstück kleine Hütten und Schrebergärten zur Selbstversorgung zu errichten. Bereits in den späten 1920er Jahren hatte Fleischmann beim Pfarrhaus im Bahnhofsviertel eine regelmäßige Kinderausspeisung eingeführt, die er später durch das Angebot für Erholungsaufenthalte in Deutschland und der Schweiz erweiterte. Kinderausspeisung im Garten der evangelischen Kirche in Steyr, ca. 1932. Foto: StadtarchivSteyr Mit all diesen Aktivitäten setzt Hugo Fl eischmann unübersehbareZeichen für ein soziales Miteinander undeinselbstloses Engagement der evangelischen Kirche in Steyr.26 Doch auch Persön lichkeiten aus der oftmals belächelten Schar der Kunstschaffenden setzen außergewöhnliche Akzente. Etwa die Literatin Enrica vonHandel-Mazzetti,die zunächst Geld, dannSachspenden nach Steyr schickt und wenig später einen flammenden Appell an die Künstler Europas richtet: ,,Menschenbrüder deutscher und fremder Nation, (. .. ), hellet der armen Stadt Steyr. Lasset dieStadt, (...)wo Schuberts Lindenbaum stand und Meister Blümelhuber den Domschlüssel gewaltig aus Stahl erwachsen ließ, die Stadt der „armen Magret" und der „Stephana Schwertner" nicht zugrunde gehen. Gezeichnet: Enrica von HandelMazzetti , Hermann Bahr, Franz Karl Ginzkey, Paula Grogger, Artur Fischer-Colbrie,Richard Krahlik, Wi lhelm Kienzl ,Richard Mayr und Josef Reiter. "27 Am 29. Dezember 1931 sieht sich Bürgermeister Sichlrader genötigt, dem Gemeinderat mitzuteilen, dass dieStadt am Ende ihrer Kräfteund somit bankrott sei. Man könne nicht einmal von Konkurs sprechen,wei l keine Konkursmasse mehr da sei, lässt er die geschockten Zuhörer wissen.2s. Der Fürsorgereferent packt das Grauen in Fakten und Bil der: ,,Fast 90%der Kinder inSteyr sind schwer unterernährt. Es gibt in Steyr Fami lien mit Kindern, deren einzige Nahrung seit Monaten dünne Wassersuppen sind , weil sie nicht einmal Kartoffel kaufen können, von Brot und Milch gar nicht zu reden. Es gibt in dieser Stadt Menschen, die tagelang im Bette bleiben müssen, weil sie ohne Heizmaterial sind und weder warme Kleider noch Schuhe haben"29. BeimArbeitsamt Steyr beträgt dieZahl der Arbeitsuchenden indes rund 7.000 Personen im Bezirk, davon 3.600 unmittelbar aus Steyr. Nach Wochen arktischer Kälte sind die Sachspenden , die aus aller Welt eintreffen, wieder nur ein Tropfen auf dem „heißen Stein": 10.000 Pakete Kakao, 12.000 Tafeln Schokolade, 1.000 Portionen Erbsensuppe und 100 kg Margarine können die Not nur für ein paar Tage lindern. Der Magistrat schafft es nach langwierigen Verhandlungen mit dem Gremiumder Kaufmannschaft, endlich die Abgabe von verbill igten Lebensmi tteln anArbeitslose und Ausgesteuerte im Stadtgebiet zu erreichen. Jene, die auf der ,,falschen Seite" stehen, sind ausgehungert und ausgeblutet bis auf die Knochen. Die Lage spitzt sichzu.30 Bürgermeister Sichl rader, sein Vize Azwanger und Magistratsdirektor Häuslmayr unternehmen fast wöchentlichFahrten zum Landeshauptmann nach Linz und zu den zuständigen Ministerien nach Wien, um die Situation für Steyr zu entspannen. Überall signalisiert man ihnen Wohl - wollen, doch konkrete Zusagen bleiben aus. Einzig und allein private Institutionen, Vereine und Personen aus dem In- und Ausland fühl en 25 StK 1933, S. 290 26 Festschrit 100 Jahre evang. Kirche in Steyr, S. 31 ff. 27 SIK. 1933,S. 320 28 SIK 1933, S. 305 29 SIK. 1933, S. 308 30 StK. 1931, S. 316

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