Vom Boom zum Bürgerkrieg

Eine Ausstellung als Befragung einer Stadt Florian Wenninger Die Geschichte einer Stadt gibt es nicht. Schon deshalb nicht,weil keine Stadt für sich allein existiert. Erst recht keine, die wie Steyr lange Zeit vor allem vom Waffenbau lebte. Die Auftragslage der Rüstungsindustrie war und ist immer eng verbunden mit internationalen Krisen und Konflikten.Eine Ausstell ung, diedie Geschichte Steyrs zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Beginn des Austrofaschismus erzählt, muss weiter ausholen, sie kommt nicht aus ohne die Einbettung in einen größeren politischen Rahmen. Gut gefüllte Auftragsbücher verraten für sich genommen wenig darüber, wer am Ende profitiert. Eine Geschichte der Stadt aus der Perspektive der Arbeiterschaft sieht anders aus als von der Warte der Fabrikbesitzer und Aktionäre. Um beide Erfahrungswelten zusammenzuführen , muss man sich lnteressensgegensätzen zuwenden, die nicht nur die Sicht auf den jeweils anderen prägten , sondern vor allem auch das eigene kulturelle und politische Selbstverständnis maßgeblich beeinflussten. Es ist erstaun lich , wie sehr die Geschichte des Ersten Weltkrieges auch noch nach hundert Jahren auf die militärischen Vorgänge beschränkt bleibt. Zweifellos hatte das Fronterlebnis enorme Auswirkungen auf eine ganze Generation von Männern. Aber was war mit der Bevölkerungsmehrheit, die nicht in die Schützengräben zog? Wie wirkte es sich auf Frauen aus, erstmals eigenes Geld zu verdienen? Wie veränderte sich der Alltag der Kinder, die stärker als je zuvor sich selbst überlassen blieben? Was erfuhr die Heimat von der Front? Wie versuchten die Menschen mit dem immer höheren Leistungsdruck in den kriegswichtigen Unternehmen umzugehen - vor allem aber auch mit der sich stetig verschlechternden Lebensmittelversorgung? Im Herbst 1918 endete das massenhafte Sterben an den Fronten. Waren die, die nun wieder kamen, die Gleichen, die einst in den Krieg gezogen waren? Was brachten sie mit, sichtbar und unsichtbar? Und: Wen trafen sie zuhause an? Welche Erfahrungen und Hoffnungen, aber auch welche Ängste bestimmten Denken und Handeln der Menschen in der Nachkriegsgesellschaft? Die traditionellen Eliten, vom Adel über das Mi litär bis hin zur Kirche sahen sich in der jungen Republik einem rasanten Autoritätsverlust ausgesetzt. Zugleich erreichte die Arbeiterbewegung eine bis dahin ungekannte Größe. Wie verhielten sich beide Seiten zueinander und in welchen Fragen prallten die Gegensätze besonders heftig aufeinander? Die größte Bedrohung der Rüstungsindustrie ist per Definition der Friede. Der wichtigste Arbeitgeber der Stadt , die österreichische Waffenfabriksgesellschaft , hatte durch die intensive Aufrüstung vor dem Ersten Weltkrieg einen enormen Aufschwung erlebt. infolge des Waffenstillstandes und der Rüstungsbegrenzungen, zu denen sich Österreich in den Friedensverträgen verpflichtet hatte, schlitterte das Unternehmen und mit ihm die Stadt in eine zwanzig Jahre währende Dauerkrise. Welche Strategien wurden entwickelt, um Auswege aus dieser Misere zu finden? Das boomende Steyr der Jahre 1912 - 1914 wurde in der Zwischenkriegszeit zum Inbegriff von Armut und Perspektivenlosigkeit. Zwar gelang es der Waffenfabrik bis Ende der 1920er Jahre, sich auf niedrigem Niveau zu stabilisieren, doch mit der Weltwirtschaftskrise war auch diese bescheidene Blüte wieder dahin. Schließlich war die Stadt im Jahr 1931 endgültig bankrott. War die Ernährungssituation für weite Teile der Bevölkerung schon bis dahin prekär gewesen, wurde sie zu Beginn der 1930er Jahre katastrophal. Hunger war nun endgültig kein Minderheitenphänomen mehr, sondern alltäglich: Neun von zehn Steyrer Kindern waren unterernährt.

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2