Vom Boom zum Bürgerkrieg

■ 1 Mit der Ausrichtung der „Österreichischen Bundestagung fü r Heimatschutz" vom 9. - 13. Juli 1924 in Steyr geht die Selbstfindung des neuenÖsterreich ineine entscheidendePhase. An diesem Großereignis zeigt sich noch einmal der Versuch zur Aussöhnung und zum Miteinander, doch anschl ießend werden die Weichen unwiderruflich auf „Lagerdenken, Kampf und Polemik" umgestellt. Gregor Goldbacher, einer der Hauptakteure dieser Veranstal tung schreibt euphori sch in der Steyrer Zei tung : ,.Es ist durchaus keine Übertreibung, wenn wir feststellen, dass die Tagung in die Geschichte Steyrs mit goldenen Lettern verze ichnet werden muss,( ... ) und dass wi r mit Freude sagen dürfen: Der Heimatschutz ist in überzeugender Weise ins Volk eingedrungen". 16 Völlig anders sieht die Situation das sozialistische Steyrer Tagblatt. Dort heißt es: ,. Ein großer Teil des Volkes steht der so genannten Heimatschutzbewegung völlig fremd gegenüber, denn die Arbeiter haben (.. .) kein Vaterland , sie haben keine Heimat. Für sie verknüpfen sich mit dem Begriff Heimat nicht jene Vorstellungen, die Musiker und Dichter begeistert haben( ... )". Nach weiteren kritischen Zeilen reicht der Journalist abschließend der Gegenseite doch symbolisch die Hand, wenn er schreibt: ,.Wenn uns also die Heimatschutzbewegung die Größe der vergangenen Kul tur unseres Volkes vermitteln wi ll - und das tut sie- so begrüßen wi r sie, wenn sie berei t ist, mitzuarbeiten an der Entwicklung der Kultur im Sinne der Verwirklichung des freien Menschen, dann gehen wir mit ihr".17 Es sollte ein Wunschtraum bleiben. Mitten in die scheinbare Normalität, die den Kindern wahrscheinlich näher stand als den Erwachsenen , fällt das folgenreichste Ereignis des Jahres 1925: vom 29. September bis 25. November kommt es zu einer Aussperrung von 4.000 Mitarbeitern der Steyr-Werke, die um einen höherenLohn kämpfen. Nach wilden Kampfmaßnahmen, diezah lreichen Arbeitern den Job kosten, wird die Fabrik zwar wieder aufgesperrt, aber das Klimazwischen Generaldirektion, Betriebsräten und Mitarbeitern ist arg vergiftet. 18 Vielen Familien, die einst nach Steyr zugezogen sind , um hier eine neue Existenz aufzubauen, ist die Lebensader abgeschni tten. Umso leichter fällt es ihnen, verlockenden Angeboten nach Brasil ien und der „neuen Welt" zu folgen und Steyr für immer den Rücken zu kehren. Doch auch in Übersee ist das Leben kein Honiglecken. Bis 1931 wandern knapp 1.400 Personen , darunter großteils hoch qualifizierte Facharbeiter nach Brasilien, Kanada, USA und die Sowjetunion aus und schwächen damit die Steyrer Wirtschaft. \ Am 2. April 1926 stirbt überraschend Bürgermeister Josef Wokral. Mit seinem Tod sch ließt jener Pol itiker für immer die Augen, der nicht nur über die Parteigrenzen hinaus respektiert wurde , sondern auch die Sozialdemokratie in Steyr legitimierte und etablierte. Alssein Nachfolger wird am 3. Juli 1926 der erst 31-jährige Franz Sichlrader gewählt. Eineseiner erstenAmtshand lungen solltedie Bautätigkeit in Steyr wieder inSchwung bringen. Unter seiner Federführung stell t die Stadtgemeinde in der Nähe der Industriehalle (StadttheaterNolkskino) 13.000m2 Grund unentgeltlich für die Erbauung von Ein- und Mehrfamilienhäusern zur Verfügung. Zunächst entwirft und realisiert der Steyrer Arch itekt Franz Koppelhuber drei Arbeiterwohnhäuser in der Tomitzstraße. Mitte 1926 beginnt dann dieGemeinnützige Wohnbaugenossenschaft Steyr mit der Verbauung des Grundstückes an der Grillparzerstraße. Den gut durchdachten und gestalteten Entwurf für die Anlage, bestehend aus „einem geschlossenen Komplex mit sieben Stiegenhäusern , 74Wohnungen , 13 Geschäftslokalen und Werkstätten sowie zwei gekuppelten und einem allein stehenden Einfamilienhaus" liefern die Archi tekten Gustav Schläfrig und Hans Reiser.19 ."•·-, .. .-.,. :- .~ ,i,,.(<1~' ., t/.i/1:~ ~¾. ,r, )/~ -' ' : . • -:. -.__ ··., ,,.~J~:f'~ousr:'~~~l Wohnanlage der Baugenossenschaft Steyr in der Grillparzerstraße, 1926-1927. Quelle: StadtarchivSteyr Neben dem Bau der Wohnanlage Tomitzstraße zählt vor allem die ebenso schlichte , wie monumentale Anlage des Steyrer Krematoriums zu Koppelhubers Hauptwerken. Mit der Realisierung der Feuerbestattungshalle und dem angefügten Urnenfriedhof kommt es kurzfristig zu einer ideologischen, geistigen und spirituellen Übereinstimmung von Sozialdemokraten, Freidenkern , Planer und Stadtverwaltung, mit starker Symbolwirkung nach außen. Doch zurück zumAlltag und seinen Facetten. Wer ein Dach über dem Kopf hat und halbwegs seinen Lebensunterhalt verdient , ist in diesen ' \ SIK. 1925, S17 " StT g•., 10 07 t924, Nt 159, S: 18StK. 1927, S. 125 19Stein Erwin: Städte Deutsch-Österreichs ,Anhang Werbeteil

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2