Vom Boom zum Bürgerkrieg

- 1 Tagen schon glücklich. Die Jahre von1924 bis 1927 haben den meisten ein wenig Entspannung gebracht. Die Herren der Schöpfung gehen am Wochenende zur Trabrennbahn und setzen ihr weniges Geld auf eines der Pferde . Auch manche Frauen verlieben sich in die rasenden Vierbeiner mehr, als in die Männer, die sie mit Peitschenschlägen vor sich her treiben. Zu oft erleben sie die Brutalität am eigenen Körper in Form eines All tags, der für ihre Angetrauten nur mit Alkohol und Gewalt zu bewältigen ist. Am 13. August 1927 wird in Steyr ein regelmäßiger Autobusverkehr eingeführt, der auch die nähere Umgebung mit einschließt. Mobil ität ist Ende der 1920er Jahre ein Thema, das niemanden kalt lässt. Das städtische Unternehmenfirmiert unter dem Namen „Geste" und beginnt seinen Betrieb mit fünf Bussen aus der Produktion der Steyr-Werke.20 Gegen Ende 1927 führt der Winter wieder sein strenges Regiment, doch es ist erst der Beginn des absoluten Klimahorrors. Inder Nacht zum 22. Dezember friert der Ennsfluss bei Temperaturen um minus 20 Grad Celsius auf einer Fläche von rund 40.000m2 zu. ,,Ein Ereignis, welches seit dem Jahr 1900 nicht mehr zu sehen war", berichtet der Chronist. 21 Schenkt man den Zeitungen und Chroniken Glauben ,verlaufendie Jahre von 1927 bis Mitte 1929 ingespannter Ruheund scheinbarer Einigkeit. Die Waffenfabrik kann den Mitarbeiterstand bis August 1929 wieder auf 6.300 anheben und macht im Geschäftsjahr 1927 einen Gewinn von 2.133.452 Schilling. Sogar eine Dividende wird ausbezahlt.22 (Der Monatslohn von Facharbeitern in der Metallbranche liegt im Vergleich zwischen 50 - 70 Schilling).23 Es scheint aufwärts zu gehen, doch der Schein trügt. In der letzten Sitzung des Gemeinderates im laufenden Geschäftsjahr 1928 berichtet Bürgermeister Sichlrader ungewöhnlich ernst und ausgiebig über die Finanzgebarung der Stadt. Unter anderem legt er dar, dass die Stadt dem Bund 531.518 Sch illing an Fürsorgekrediten schuldet und zusätzlich 600.000 Schilling fü r Bauprojekte aufgenommen wurden, die allerdings nicht wie beabsichtigt fü r Wohnbauten sondern für den Straßenbau verwendet werden müssen. Um Industriegründungen zu fördern , hat die Stadtgemeinde weiters 150.000 Golddollar aufgenommen, doch ist der größte Teil der unterstützten Firmen bereits wieder in Konkurs gegangen und eine Rückzahlung daher abzuschreiben. Seit 1925 hat die Stadt außerdem 2 Millionen Kronen an Lohnabgaben eingebüßt, was aus den mehrmaligen Aussperrungen der Arbeiterschaft in der Waffenfabrik resultiert.24 Sichtbar macht es erst der Winter, der sich Ende Dezember erstmals mit großer Kälte und viel Schnee zu Wort meldet. Zu Beginn des Jahres 1929 lässt er seine Zügel mit einer kurzen Tauwetterperiode noch einmal locker, doch ab 30. Jänner schlägt er unbarmherzig zu. Die Temperaturen fallen bis zu minus 35 Grad Celsius und werden die Bevölkerung bis 4. März an die Grenzen ihrer Existenz führen . Bei hohemWasserstand der Enns wurde die Gelegenheit zum Holzfischen genutzt, ca. 1930. Foto: Stadtarchiv Steyr Neben den riesigen Schäden, den zah lreichen Arbeitslosen und den ausgezehrten Menschen, die der kalte Winter hinterlässt, häuft sich der Schuldenstand der Stadt um weitere 80.000 Schill ing an. Auch die Gräben zwischen den einzelnen Gesellschaftsschichten vertiefen sich immer weiter, weil das Lagerdenken einfach keine wirkliche Solidarität aufkommen lässt. Bis zum Frühsommer entspannt sich die Lage zwar wieder ein wenig, aber die Normalität des Alltags ist nur von ganz kurzer Dauer. Die Fortsetzung der im Winter virulent gewordenen Katastrophe beginnt im Spätsommer 1929. Ummit den großen Konkurrenten am Weltmarkt wirtschaftlich mithalten zu können, beginnen die Steyr-Werke sukzessive mit Rat ionalisierungsmaßnahmen in der Automobi lproduktion. In der Folge werden innerhalbvon 14Tagen 1.000 Arbeiter entlassen und das ist erst der Anfang. InSteyr fä ll t die Anzahl der Beschäftigten in den Steyr-Werken vor dem Hintergrund der Rationalisierungen und den finanziellen Problemen der Boden-Credit-Anstalt von 6.300 im August auf 3.250 im Dezember 1929. In Anbetracht dieser Umstände verlässt der erst im Juni 1929 als „Retter der Automobilproduktion" nach Steyr geholte, charismatische Konstrukteur Ferdinand Porsche im März 1930 wieder die „Eisenstadt". Der Stadt und ihrer Bevölkerung geht es indes zunehmend schlechter und es zeichnet sich kein Licht am Ende des Tunnelsab. Ende Dezember beginnt der Magistrat sein „Fami liensilber" zu veräußern . Den Beginn macht der Verkauf des städtischen Krankenhauses und des St. AnnaSpitals. 750.000 Schill ing werden dabei erlöst undbringen kurzzeitig etwas 20 SIK. 1928, S. 86 21 SIK. 1929, S. 243 22 Neubauer, S. 169 23 Österr. Volkswirt 21 Jg., Bd. 11 , S.930 24 SIK. 1930, S.291 17

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