Vom Boom zum Bürgerkrieg

Die Eintragungen des Chronisten der Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender klingen wie ein Staccato des unvermeidbaren Niedergangs: Oktober 1917: Um Heizmaterial zu sparen, wi rd in den Volksschulen Unterrichtsunterbrechung eingeführt. Anfang Dezember wird eine Bestandserhebung der Vorräte an Most,Mostessig, Kraut,Obst,Rüben und Zwiebel angeordnet. Wald- und Holzbesitzer müssen ihre Besitzstände der Stadt bekannt geben. Der An- und Verkauf von Schuhen ist nur noch mit Bedarfsbescheinigung möglich. Der Magistrat führt eine Lustbarkeitsabgabe ein, um aus öffent lichen Unterhaltungsveranstaltungen (die nur mehr von wenigen begüterten Personen besucht werden können) etwas Geld in die leere Stadtkasse zu bekommen . Das Gaswerk und die Waffenfabrik müssen den Betrieb wegen Kohlemangel einstellen. Die gesamte Arbeiterschaft , insgesamt 13.200, bekommt zunächst noch bezahlten Urlaub. Die Einwohnerzahl von Steyr wird imDezember 1917 mit 36.000 angegeben . .,Die mehr als bescheidene Zuweisung von Lebensmitteln auf die (.. .) Karten reicht nicht aus zum einfachsten Lebensunterhalt. infolge der rücksichtslosen (... ) Eingriffe in den ohnehin verm indertenViehbestand wird dieMilchknappheit(... ) immer mehr gesteigert. Das Brot wechse lt fast täglich seine Farbe bis zum Eidottergelb infolge des zugegebenen Maises. Die Mehlquote ist gekürzt, die Zuckermenge verringert. Statt echten Kaffee gibt es 'Kriegskaffee' (ausZichorie). Die Teuerung beträgt nahezu 300%" , klagt der Chronist.? In vollster Blüte steht in jenen Wochen und Monaten der Schleichhandel. Zucker, Seife, Petroleum,Tabak oder Kerzen sind die Tauschobjekte für Butter, Eier und Fleisch . Die Stadt Steyr beschlagnahmt im Juli 1918 die gesamte Kartoffelernte und erlässt die Kundmachung, dass zu einer Mahlzeit pro Person und Tag maximal 11 dkg Rindfleisch oder Fisch in Gaststätten abgegeben werden dürfen. Die Verordnung hinkt allerdings der Realität bei weitem nach . ., Die tatsächliche Menge an Fleisch liegt bei maximal 8- 10 dkg und ist nur an manchen Tagen für einige Glückliche zu haben" B. Mitten in diese katastrophalen Zustände platzt im Juni 1917 die überraschende Anweisung der militärisch-technischen Baubehörde, dass auf der Ennsleite unverzüglich mit dem Bau von 32 gemauerten Arbeiterwohnhäusern zu beginnen sei. Über die Hintergründe zu diesem plötzlichen „Baubefehl " lässt sich nur spekulieren. Gleichzeitigmit dem überraschenden Bau der Großsiedlung „Ennsleite", geht der Krieg in seine Endphase. Die einst hochgeachteten Soldaten der k.u.k. Armee werden dabei zum reinen Menschenmaterial degradiert und in die sinnlosestenSch lachten geworfen. Im letzten Kriegsjahr sind es durchwegs nur mehr Reservisten , die an den Fronten stehen. Erstmals in einem Krieg wird der Begriff „verbrauchte Soldaten" verwendet und in der Tat si nd sie nichts anderes als unerfahrene, manchmal furchtsame junge Männer, Bauern , Handwerker, Studenten , Angestellte und Arbeiter, die brutal aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen und in die letzten Schlachten geworfen werden. Seit 1916 decken die zugeführten Marschformationen nicht einmal mehr die Verluste ab, obwohl die Heeresführung alles einberuft, was eine Waffe halten kann. So unvorstellbar grausam und brutal die Verhältnisse an den Kriegsschauplätzen gewesen se in müssen, stehen jene im Hinterland an Dramatik und Irrwitz um nichts nach .Der Alltag hat längst aufgehört, als solcher zu existieren. Jetzt geht es um das nackte überleben. Ab dem Sommer 1917 werden die Felder bewacht, um Plünderungen zu verhindern. Der Gegensatz zwischen Stadt und Land eskaliert. Die Bevölkerung in den Städten wirft den Bauern vor, dass sie keine Opfer brächten und dass ihr Patriotismus nicht über die Gemeindegrenze hinausreiche. Die Polarisierung der Gesellschaft schreitet unaufhaltsam voran. Ab Jänner 1918 treten immer mehr Arbeiter in den Ausstand. Allein in Wien legen Anfang des Jahres bis zu 500.000 Menschen ihre Arbei t nieder. In Steyr streiken die Arbeiter der Waffenfab ri k, der Firmen Rei thoffer, Huber,Winternitz Neffen, Gebrüder Heller, Bürsten Mayr und FranzWerndls Nachfolger in Unterhimmel.9 Immer öfter gibt es Rebel - lionen und Meutereien bei den Ersatzmannschaften in den heimischen Kasernen. Es folgen Plünderungen , Schi eßereien und sch ließlich Standgerichte, bei denen relativ willkürl ich mutmaßliche Rädelsführer exekutiert werden. Der Kreis schließt sich. Die Monarchie hört auf zu existieren. Am 20. Oktober 1918 wird die Republik Deutsch-Österreich ausgerufen. Am 26. März 1919 nimmt Julius Gschaider, der Neffe Josef Werndls und Bürgermeister von Steyr seinen Hut und überlässt den siegreichenSozialdemokraten die höchste Position in der Stadt. Am 25. Mai 1919 wird Josef Wokral als erster sozialdemokratischer Bürgermeister von Steyr angelobt. Er übernimmt kein leichtes Erbe. Die 20er Jahre beginnen, wie das vorangegangene Dezennium geendet hat: Bittere Armut, Arbeitslosigkeit, Seuchengefahr, Brennstoffmangel, galoppierende Inflation und über allem die große leere,manchmal auch unbändige Wut, die der Krieg in den Herzen und Köpfen der Menschen hinterlassen hat. Am 13. September 1919 besucht Staatskanzler Dr. Karl Renner Steyr und Bad Hall , um sich ein Bild der Lage vor Ort zu machen . An die bäuerliche Bevölkerung ergeht ein letzter und ei ndringlicher Aufruf zur Erfüllung der Lieferpflicht von Nahrungsmitteln, um die Krawalle in den Städten einzudämmen. Die Um- und Neubenennung der Straßen in Steyr ist ein erstes Anzeichendafür, dass das alteReich zumindest ver7 SIK. 1919, S.66ff. 8 SIK. 1919, S.80 9 SIK. 1919, S. 70

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