Veröffentlichungen des Kulturamtes, Heft Dezember 1950

Veröffentlichungen des Kulturamtes der Stadt Steyr Dezember 1950 JOSEF DRAVSINQER Uns Mrammlbflusgilltr IN DER STADTPFARRKIRCHE STEYR

Der Stabtidt der Stadt Steyr unter Vorsitz des Bgm. £. Steinbrecher bewilligte in seiner Sitzung vom 7. U. 1950 die Mittel zur Drucklegung vorstehender Arbeit. Alle Rechte vorbehalten Nachdruck nur mit Genehmigung des Aulturamtes der Stadt Steyr Eigentümer, Herausgeber und Verlag: Magistrat Steyr, Rulturamt Für den Inhalt verantwortlich: Dr. Lrlesried Arobath Zeichnung auf Seite 7 von CD. Götzinger, alle anderen Zeichnungen vom Verfasser. Druck: Vereinsdruckerei Steyr

Betrachter nicht leicht mac£)en; sie fordern ein fleißiges Auge, ein geruhsam sich ihnen hingebendes Denken und sind nicht so ohne anstrengende Teilnahme abzulesen wie etwa ein Bildwerk der italienischen Renaissance. Dafür tasten sie tief in seelische Bereiche vor und entlassen den aufgeschlossenen Betrachter niemals, ohne ihm neue innere Werte mitgegeben zu haben. Auch verlocken sie dazu, immer wieder zu ihnen zurückzukehren, weil sie sich nicht einer ersten Bekanntschaft mit ihnen voll erschließen, sondern mit jedem Male der Wiederkehr bisher Verborgenes zu schenken haben. In diesem Umstande liegt zugleich die Berechtigung, über Kunstwerke dieser Art zu sprechen. Denn der Laie ist selten geneigt, sich die Voraussetzungen für das völlige Ausschöpfen so unnahbarer Schöpfungen zu erarbeiten, weswegen er sich gerne einer Führung anvertraut, die das für ihn besorgt und auf eine den einzelnen Kunstwerken angemessene Weise mit ihnen bekannt macht. Handelt es sich gar um Kunstwerke, die schwer zugänglich sind und der Aufmerksamkeit leicht entschlüpfen, die zudem einen hohen heimatkundlichen Wert darstellen, so ist die Absicht, sie einem größeren Kreise zu vermitteln, wohl entschuldbar. Das Sakramenthausgitter der Stadtpfarrkirche zu Steyr darf zu jenen nur wenig bekannten Kostbarkeiten gezählt werden, die es wohl verdiene», ausführlich und liebevoll betrachtet zu werden. So unscheinbar diese Arbeit aus spätgotischer Zeit dem flüchtig darübergleitenden Blick zunächst erscheinen mag: die nähere Bekanntschaft damit führt zu einer Fülle verborgener Schönheiten, die fast gebieterisch fordern, daß man sie aus ihrer Verborgenheit löse. Und so möge denn diese kleine Studie Gelegenheit geben, mit einer besonders liebenswerten Schöpfung unserer Ahnen bekanntzumachen.

gähn Jahre 1443 beschlossen Rat und Bürgerschaft zu Steyr den Bau einer großen Stadtpfarrkirche an Stelle der alten, unzureichend gewordenen. Nicht mehr der Landesherr also oder ein Kirchenfürst ist jetzt Auftraggeber so gewaltiger Vorhaben, sondern der zum Träger der Macht im Staate gewordene Bürger. Die Baukunst und die Plastik dieser um 1250 angebrochenen „Bürgerzeit" war inzwischen zu „klassischer Reife" herangewachsen. Zwar ist die Gebärde dieser Klassik eine andere als jene zur Zeit der großen Staufenkaiser, aber beiden gemeinsam ist das Bekenntnis zum Naunr als dem Sinnbilde zeitlosen Daseins. Dieses Raumgefühl freilich hat sich in seiner Art gewandelt. Es ist nicht mehr der in allen seinen Teilen gegliederte Raum, sondern der Jrmen- raum als N a u m einheit ist Ziel dieser Klassik geworden. Der Raum ist durch diese neue Einstellung schwereloser, durchgeistigter geworden. Ein Schritt darüber hinaus — und die bisherige Form muß sich aus ihrer linearen Bestimmtheit in das Malerische und Unbestimmte barocker Gesinnung auslösen. Aeuheve Zeichen dieser Einstellung zum Raum ist die Bevorzugung der Halle an Stelle der Basilika. Das Querschiff der Kirche fällt, die Seitenschiffe wachsen zur Höhe des Mittelschiffes an und verbreitern sich, Langschiff und Chor verschmelzen zu einem Raumganzen, das nicht mehr durch Pfeiler und Joche als eine Summe selbständiger Teile vorgetragen wird, sondern als große, einzige Einheit. Darum auch ein Netzgewölbe, weil dieses die Jochabgrenzungen überspült, darum Verzicht auf das Kreuzgewölbe mit seiner aufsplitternden Wirkling. Dieses Naumgaiize wird schließlich von einem mächtigen, einförmige» Steildach überstülpt — auch dadurch dem Einheitsgedanken untertan. Wenn man die Pfarrkirche zu Steyr durch das Hauptportal betritt, empfindet man sogleich die feierliche Hoheit dieser Raumauffassung. Ein widriges Geschick hat dieses herrliche Bauwerk seiner kostbare» Innenausstattung fast ganz beraubt, so daß der Raum unoerhüllt sprechen darf. Erster Baumeister war Hans Puchsbaum, der auch am Bau der Wiener Stephanskirche beteiligt war. Nicht nur der Grundriß, auch Einzelheiten in den Baugtiedern weisen den engen Zusammenhang mit St. Stephan nach. Die Stadtchronik berichtet von unsäglichem Leid, das in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts über die Bewohner der aufgeblühten Stadt gekommen, von beständigen Fehden der Große» nnö der Ohnmacht des Kaisers, von langwierigen Kämpfen gegen die Ungarn, die unterhalb 4

Steift (584 / Stich von Ejuufer

von Steyr einen Brückenkopf über die Enns bildeten und plündernd bis in die Vorstädte drangen, von gänzlichem Verfall der Wirtschaft und allgemeiner Verarmung, bis unter Kaiser Maximilians kräftiger Hand eine allmähliche Befriedung und damit auch eine Wende für die schwergeprüfte Stadt eintrat. Der Bau der Kirche war unter solchen Verhältnissen nur langsam vorgerückt. Im Jahre 1522 stand er nun vor der Vollendung. Da brach eine Feuersbrunst aus, die zuletzt auch die hochgelegene Kirche und die für die Einwölbung bereitgestellten Gerüste ergriff. Es verbrannten die vielen Altäre, Epitaphien, Fenster, Gemälde, die Orgel und der kunstreich gearbeitete Predigtstuhl; die Glocken schmolzen und stürzten herab. (Nach Franz lernet Pritz, Beschreibung und Geschichte der Stadt Steyr, 1837.) Erst im Jahre 1636 war der Bau neuerlich vollendet. Der Hauptchor der Pfarrkirche schließt mit 5 Seiten eines regelmäßigen Achteckes ab; die drei mittleren sind von Fenstern eingenommen; die einander gegenüberliegenden vollen Flächen sind architektonisch überaus reizvollen Gebilden vorbehalten: einem Sakramentenhänsrhen und einer Baldachingruppe. Die Bekrönung des Sakramentenhäuschens strebt als schlankes, zur Hälfte aus der Mauer ragendes Türmchen bis zum Spitzbogenabschluß hinan. Die feingliedrige Durchbildung in verkleinerten spätgotischen Bauformen, die spitzenhaft zarte Durchbrochen- heit, der Wohllaut der Verjüngung dieses Türmchens vereinen sich zu so edler, lieblichernster, ja holdseliger Gebärde, daß man dieses architektonische Kleinod als Nachklang einer Zeit empfindet, welche im frühen 15. Jahrhundert die „Schönen Madonnen" schuf. Das Nordportal der Pfarrkirche zu Steyr birgt übrigens eine solche plastische Kostbarkeit; eine hl. Dorothea mit dem Körbchen. Auch auf die traumhaft schönen Bilder Stefan Lochners könnte man verweisen, um die feierlich stille Wirkung dieser Schmuckform letzter Gotik zu bezeichnen. Stefan Lochner starb im Herbst 1451, also acht Jahre nach jenem Baubeschluß der Steyrer Bürger. Die größere Stilbeharrlichkeit der Baukunst mag die Ursache sein, daß mir noch in späteren Jahrzehnten einem so süßen Wohllaut der Form begegnen können. Was uns aber hier eigentlich angeht, ist der rechteckige Gitterabschluß des Sakramentenhäuschens. Dieses Gitter gehört wohl zu den schönsten der uns erhalten gebliebenen Schmiedeeisenarbeiten aus gotischer Zeit. Es war lange verschollen und ist ganz zufällig wieder aufgefunden worden. Als ich vor vielen Jahren zum erstenmal vor das Sakramenten- hüuschen trat, erzählte der mich führende Priester von der Wiederentdek- kung des Gitters. Stadtpfarrer Aichinger, der übrigens Anton Bruckner in der Stille seines Pfarrhofes eine, dem großen Meister überaus liebgewordene, weltferne Stätte künstlerischen Schaffens bereitet hat, habe einst im Kreise mehrerer Bürger in einer der gemütlichen, gewölbten und getäfelten Gaststuben der Stadt von dem verlorengegangenen Ab6

3)1. Dorothea mit dem Körbchen (um 1430) 7

jchlußgitter gesprochen, worauf einer der Bürger sich eines solchen rechteckigen Gitters entsonnen, das im Dachboden seines Hauses als Verkleidung einer schadhaften Kaminmauer diente. Man sei auf diese seltsame Weise der verloren geglaubten kostbaren Eisenschnittarbeit auf die Spur gekommen und habe das vergoldete Gitter nach sorgfältiger Reinigung wieder seiner ursprünglichen Bestimmung zugeführt. Wer vom Einheitsgedanken der späten Gotik weiß, ist nicht überrascht, so wie die Bekrönung des Sakramentenhäuschens auch die Gestaltung seiner Gittertür der Formensprache des Bauwerkes entnommen zu sehen. Aber wie unnachahmlich vollendet und rißlos sind hier verschiedene Werkstoffe und Kunstformen, Stein und Stahl, Bauplastik und Ornament dieser Einheit eingeordnet! Was die Füllungen der geschweiften Spitzbogen des Türmchens als Schmuckmotiv unter anderen Zierformen vortragen — jenes spitzenhaft zarte Maßwerk nämlich — gelangt als Fries unmittelbar über der Gittertür zur vollen Geltung und bereitet auf diese Weise sorgfältig auf die ausschließliche Herrschaft der Maßwerkornamente in den sechs Feldern der Gittertür vor. Aber auch das geschieht nicht übergangslos! Die sechs Ornamentfelder werden von Eisenrahmen eingefaßt, die —- kerbschnittartig — das Maßwerk des Frieses übernehmen und, der Geschlossenheit der Türfelder entsprechend, umbilden. Und dieses nun als Reihe herrschende Vierblatt-Motio, dessen Rhythmus nur an den Kreuzungsstellen der Einfassung durch eine reichere und quergestellte Variante unterbrochen und verankert wird, klingt in den verschiedenen Maßwerkornamenten als Teilmotiv noch nach, sich jetzt freilich anderen Formgesetzen beugend! Wer diesen Wirkungen formenden Geistes nachspürt, begreift die überquellende Begeisterung des jungen Goethe angesichts des Straßburger Münsters. Abermals stand zu jenen Zeiten die Baukunst auf einem Gipfel. E i n Geist durchflutete das Ganze und das Einzelne, und eine Steigerung war nicht mehr denkbar. Rur ein entschlossener Verzicht und der Wille, auf eine gänzlich andere Weise von vorne wieder zu beginnen. Das tat die Renaissance. Sie setzte für den gotischen Drang ins Unendliche das Bekenntnis zur Erde, für die fliehende Zeit den satt in sich ruhenden Raum, für die geistige Durchstrahlung die Schönheit irdischer Formen. Denn das harmonische Weltbild der Stauferzeit war längst zerfallen und der Einseitigkeit des Geistes mußte die Einseitigkeit der Sinne folgen. Wie durchgeistigt die Gotik ist, spricht schon aus ihrer Neigung für geometrische Durchformung des Bauwerkes, die sich in verwickelten Systemen auslebt und deren Art die einzelnen großen Bauhütten (Straßburg, Wien, Zürich, Köln) kennzeichnet. Die Seiten der Sakramenthaus-Gitter- tür, die wir eben betrachten, stehen genau in dem Verhältnisse 1 :2, die Seiten jedes der sechs Ornamentfelder im Verhältnisse 2 : 3. Man ist geneigt, sich musikalisch auszudrücken und zu sagen, daß eine Unterteilung des Oktavfeldes durch den reinen Quintton vorliege, worauf sich die 8

mittelalterlichen Kirchentonartcn gründe». Was aber unsere Aufmerksamkeit besonders fesselt, das sind die Ornamente selbst. In ihnen klingt die in germanischer Zeit so hochentwickelte polyphone Linienmusik mit iiberraschendem Wohllaut wieder auf. Denn die Zeit ist da und die Gelegenheit, uraltes Erbe neuerlich anzutreten. Schon bei den „Schönen Madonnen" hatte die „Ununterbvechlichkeit der Linie" den Körper als plastischen Kern wie Musik überströmt. Jetzt aber dars sie allein das Wort führen, und sie tut es mit jenem unbezwingbaren Drängen der Spätgotik aus klarer Ueberschaubarkeit in das Grenzensprengende und Flutende malerischer Gesinnung. Ja, dieses Streben selbst ist an den sechs Ornamenten des Gitters ablesbar! Während das oberste links noch dem Quadrat verpflichtet bleibt — und zwar als dessen beseelte Füllung — in dieser Dienstbarkeit sich aber noch für keine Richtung entscheidet, versucht sich schon das ihm benachbarte Ornament an einer Lockerung des festen Gefüges. Durch die entschiedene Einführung des Rahmenmotives wird aber zugleich die Quadratmitte betont und die Lockerung des Maßwerkes wieder eingeschränkt. Erst im dritten, zu dieser Gruppe gehörenden Ornament (links unten) ist die Auslösung so weit getrieben, daß die Grenzlinien nur noch als Andeutung auftreten. Zwar wird das Grundmotiv des ersten Ornamentes unverändert übernommen, weil es aber gleichzeitig Bestandteil eines neuen Maßmerkgebildes ist und dieses die Abgrenzung nach allen Seiten hin überspült, geht jenes Grundmotiv i» der neuen Formung unter und nur das aufmerksame Auge vermag — einigermaßen mühsam —• es aus seinem Verbände zu lösen. Kennzeichnend für den Willen, das Ornament als Ausschnitt aus einer endlosen Reihe aufzufassen, ist übrigens auch der Unistand, daß das Verhältnis der Ornamentfeldseiten (2:3) eine vollständige Ausfüllung mit Quadraten verhindert, so daß die Ornamente in der Längenausdehnung willkürlich beschnitten erscheinen. Die Ornamente der Mittelfelder und jenes rechts unten gehören einer zweiten Formengruppe an, welche vom Quadrat Abstand nimmt und durch das Jneinanderlegen des Grundmotioes schon im Ausgangsornament (rechtes Mittelfeld) sozusagen ein Liniensystem höherer Ordnung einführt. Die Senkrechte wird jetzt betont und dadurch das bisher richtungslose Strahlen in einen einheitlichen Bewegungszug nach oben umgewandelt. Das Vierblattmotiv erscheint unverändert in allen drei Ornamenten, die als Steigerungsstufen vom Einfachen zum Verwickelten anzusprechen sind. Wer das alles liebevoll beachtet, wer zudem Sinn hat für die Feinheit und Sorgfalt der technischen Ausführung (eine vergoldete Stahl- platte in Kerbschnittechnik und eine in Stanzarbeit liegen übereinander), dem werden solche Leistungen des mittelalterlichen Kunsthandwerkes erst eine Ahnung von der Kulturhöhe jener Zeiten vermitteln. Und solche einzigartige Werke sind bisher höchstens nur flüchtig erwähnt worden! 10

Ein Zeilungsaufsatz aus betn Jahre 1905 spricht übrigens davon, daß der Feldergrund der Ornamente rot bemalen sei. Wahrscheinlich waren damals die Ornamentfelder noch mit farbigem Pergament unterlegt, wie das zum Beispiel auch bei der Sakristeitür der Pfarrkirche in Bruck an der Mur der Fall war. Nach dieser flüchtigen Ueberschat, wenden wir uns jetzt der Einzelbetrachtung zu. Das Grundelement für die ornamentale Verarbeitung ist ein auf einen Keil aufgesetzter gotischer Spitzbogen: Es entsteht daraus eine kastanienblattähnliche Figur, die um ein bei gotischen Kirchenfenstern allgemein gebräuchliches Schmuckmotiv bereichert wird: 11

Wir stehen am Anfange der ornamentalen Gestaltung somit fest auf dem Boden der architektonischen Formenwelt: die organische Verknüpfung mit dem über der Tür sich erhebenden Aufbau ist dadurch erzielt. Durch leichtes Schweifen dieses Grundelementes wird dessen ornamentale Verarbeitung eingeleitet: 12

AugmentJ (oben linksl Lesen mir die Reihe der Ornamente wie einen Buchtext ab, dann begegnet uns beim ersten Ornament gleich die verwickeltste Variante. Fünf in ihrer Grüße voneinander abweichende Blatter fügen sich so zur Einheit einer Figur, daß eine Versetzung dieser Figur um je einen rechten Winkel möglich wird und auf diese 21rt auch die vollkommene Erfüllung eines Quadrates durch Wiederholung: Kaum aber zu gemeinsamer Wirksamkeit zusammengetreten, erlischt der Eigenwert dieses fünffingrigen Blattbildes; er geht in einer neuen, der Ouadratmitte zugeordneten Figur auf. Das größte der Blätter tritt aus dem ursprünglichen Verbände und bildet mit seinen Wiederholungen eine 2lrt Windrose, und die übrigen je vier Blätter wirken nur mehr als ausfüllende Ergänzung zum Quadrat: 13

Damit scheint der für das gesamte Ornamentfeld erstrebte Einheile gedanke aufgegeben und der Formwille der Renaissance spürbar. Wer aber aufmerksam ist, wird gewiß die nachbarliche Beziehung entdecken, die rings um die Quadratecken auftritt und als vermittelndes Nebenmotiv das Hauptmotiv der Windrose noch einmal bringt, diesmal schräg versetzt und die Richtung umkehrend: Der Einheitsgedanke ist also doch schon im ersten Ornament lebendig, wenn auch noch verhalten, als leise Regung, Wir werden nun zeigen dürfen, wie dieser Wille nach dem Einen und Grenzlosen von Ornament zu Ornament sich steigert bis zu unüberbietbarer Verkettung und Verschlingung, 14

Ornament 1 (oben, links) 15

Augment 2 (oben, rechts) 'Auch die zweite Variante ist dein Quabrat als Rahmenerfüllung verpflichtet, aber es wird doch schon ein bedeutender Schritt gegen das Ziel hin getan. Statt fünf Blätter treten jetzt nur vier zum Hauptmotiv zusammen, und diese vier Blätter sind in zwei kontrapunktierende Paare aufgespalten: Auch sie sind so angeordnet, daß ihre Wiederholung zur Ausfüllung des Rahmenqnadrates führen, doch eirtfteht in der Mitte des Quadrates Raum für ein Ergänzungsmotiv, für einen schrägliegenden vierblättrigen Stern: Die kleinen, zwischen den Blattberührungspnnkten entstehenden Flächen waren schon im 1. Ornament mit Füllmotiven ausgestattet morden. Jetzt gewinnt eines dieser Füllmotive durch seine Größe den Rang einer Schwerpunktbildung, um den das Hauptmotiv ausschwingt. Aber die mittebetonende Wirkung dieses Sternmotives wird gemildert durch ein ebenfalls mittebetonendes Nebenmotiv, das sich um die Quadratecken anordnet und aus dem Ornament 1 das Windrosenmotiv weiterbildet: io

I Die Größe dieses Motives führt zu einem Wellenspiel, das über die Ornamentflüche Hinzugleiten scheint und die Quadratumgrenzungen überspült. 17

* Ornament 2 (oben, rechts) IS

Ornament 5 (unten, links) Wir nähern uns mit der 3. Variante.sozusagen einem Vegetations- pnnkt, an dem sich das ornamentale Gebilde in sich zusammenzuziehen scheint, um eine ganz andere Erscheinungsform vorzubereiten. Die das Hauptmotiv bildende Blattgruppe geht von 4 Blättern auf 3 Blätter zurück. Diese fächerförmige Anordnung führt auch jetzt wieder zu völliger Erfüllung des Quadrates: Auch das Windrosemnotiv kehrt wieder, aber es herrscht nicht mehr, In wie beim Ornament 1. Das Ergänzungsmotiv aus Ornament 2 richtet sich auf und tritt jetzt in die Quadratecken, sodaß es den Anschein hat, als ob die Einheitsidee wieder zurückzutreten beginne. In Wirklichkeit aber geht die Dreiblattgruppe zu der benachbarten im angrenzenden Quadrat eine so enge Beziehung ein, daß daraus ebenfalls ein Neben- motiv von grenzenüberspülender Wirkung entsteht:

Bon den quadratgebundenen drei Ornamenten ist dieses letzte zweifellos das edelste. Die Klarheit seiner Formen, die Schönheit der Motiv- bildung, das Zwanglose seiner nachbarlichen Bindungen, die zarte Gliederung des Aufbaues vereinigen sich zu einer sehr vornehmen Sprache, die durch den warmen Goldglanz des Originales feine letzte und unüberbietbare Steigerung erfährt. 20

Ornament 5 (unten, links) 21

Augment 4 (iHlittp, rechts) Jetzt zieht sich das Hauptmotiv ins denkbar Engste zusammen: nur noch zwei Blatter bestreiten es, und diese schmiegen sich zu einem in sich geschlossenen Gebilde ineinander. Ächt dieser Hauptmotive, welche sich durch Umkehrung erst zn einem Paar und dann aus die gleiche Weise zu einem Doppelpaar zusammenfinden, sind erforderlich, um ein QuoDrat zu füllen. In den von ihnen ausgesparten kleinen Flächenteilen im Inneren und an den Ecken der Quadrate finden Die schon im Ornament 2 entwickelten Sternmotive Raum, aber wie im Ornament 5 aufgerichtet. Dadurch zerfällt jedes Quadrat in zwei Hälften, deren Kern je ein von vier Hauptmotiven umschlossener Vierblattstern bildet. Das Quadrat wird dadurch in Rechtecke zerlegt, deren Seitenverhältnis jenem des ganzen, sechsfeldigen Gitters gleichkommt. Da nun aber jedes Hauptmotiv gleichzeitig an der Bildung zweier Rechteckmotive teilnimmt, entsteht ein Ineinandergreifen der Motive durch Verflechtung und damit eine ganz neue Art, dem Einheitsgedanken zu dienen, ein viel dicht- maschigeres Gefüge, 22

das sich nur noch gewaltsam beschneiden, nicht aber zwanglos begrenzen laßt. Die Ornarnentfläche wird jetzt nach allen Seiten hin überflutet, freilich noch nicht sehr augenfällig, weil die Halbteilung der Quadrate immerhin grenzbildend wirkt. 23

Ornament 4 (Mitte, rechtsj 24

Anamenl 6 (unten, relhts) Lei diesem Ornament geht die Gestaltung aus dem Engen, Gebundenen wieder ins Weite und Freie. Die Idee der wechselseitigen Verslech- lung wird nicht mehr aufgegeben, wohl aber die Unterteilung der Ornamentfläche in Quadrate bzw. Rechtecke. Die jedem, auch im freiesten Stile komponierten Ornament anhaftende Wiederholung des Gleichen bedingt freilich eine Aufteilung nach inhaltsgleichen Flächenteilen und so können wir auch das Ornament 6 nach Quadraten ablesen. Es find dann der Breite nach nicht mehr 3 sondern 5l-2 , also eine Bruchzahl, während wir im vorher besprochenen Ornament 4 immer noch zählen! Dieses Brechen mit der strengen Flüchenaufteilung, die im Ornament 4 bereits vorbereitet wird, bedeutet zugleich ein Bekenntnis zum senkrecht Aufstrebenden. Die Aufmerksamkeit wird von der Seitenbegrenzung abgezogen und auf den Höhendrang des Ornamentes hingelenkt. Wieder bildet das Hauptmotiv nur zwei Blätter. Aber sie sind jetzt nicht ineinandergefaltet wie bei Ornament 4 sondern aneinandergelegt, und erst ein weiteres seitenverkehrtes Blattpaar schmiegt sich so in die Krümmung des ersten, daß eine von unten nach oben strebende Kette entsteht. Durch fortgesetzte Seitenverkehrung legt sich so Kette an Kette, insgesamt fünfmal. Die entstehenden größeren Flächenaussparungen werden wie im Ornament 4 und 5 von aufrechtstehenden Vierblattsternen erfüllt. 25

Ornament 6 (unten, rechts» 26

lOrimment 3 (Ifflitte, links) In diesem Ornament erreicht das Streben aus irdischer Gebundenheit in die Freiheit der Idee seinen Gipfelpunkt. Alles bis dahin Erreichte dient als Ausgangsort: die Vernichtung der strengen Flächenteilung in Quadrate, die Auftriebskraft der Motivreihung, Jneinanderfaltung und Motivumkehrung, Haupt- und Ergänzungsmotiv. Von der mehr abstrakten Formenschönheit des Ornamentes 4 über den bezaubernden Gesang der Linien des Ornamentes 6 verströmt die aufwürtsdrüngende Entwicklung in einem feierlichen Hymnus der Vielstimmigkeit. Nicht mehr zwei, sondern drei Blätter verbinden sich mit einem kleinen zu einem Blattgefüge, aber dieses Nebenblatt ist kontrapunktisch gelagert und das Blattgefüge führt dadurch nach Jneinanderlegung zu größeren und kleineren Aussparungen, die von größeren und kleineren Vierblattsternen erfüllt sind. Das daraus entstehende Durcheinanderwogen von Haupt- und Nebenstimmen verbreitet über die Ornamentflüche reiche malerische Bewegung, die nach allen Seiten zu fluten scheint. 27

Fürwahr, eine ganze Welt lebt in diesen sechs Ornamenten! Wie Geschöpfe Gottes treten diese Gebilde vor uns hin, jedes von anderer Triebkraft beseelt, jedes mir anderer Gebärde auftretend und alles zusammen doch ein Ganzes bildend, jedes an seiner vorgesehenen Stelle sich einfügend in eine Rangordnung, die alle Stufen durchläuft: von feierlicher Ruhe, über zarte Verschränkung, beseelte Schönheit, durchgeistigte Klarheit, sinnenfrohe Anmut bis zu überschäumender Pracht, von einsamer Versenkung in sich selbst bis zur leidenschaftlichen Hingabe an das All, Und an solchen Schöpfungen gehen die Menschen achtlos vorbei.,. 28

Ornament 3 (Mitte, links) 29

Ver lliahmen Was innerhalb der sechs Ornamentfelder sich ansleben will, das soll der Rahmen einlegen und festhalten. Er darf also nicht selbst omt dieser Bewegung ergriffen werden: er muß besänftigen, beruhigen. Er soll aber auch Mittler sein zwischen den Formen der Motive und jenen des Bauwerkes, das sich über diesem Gitter auftürmt. Es wird uns also folgerichtig erscheinen, daß für die Rahmenbänder ein Schmuck- und ein Füllmotiv hinreichen, deren Reihen sich wie kostbares Geschmeide um die Ornamente legen, und daß diese Motive zwischen den ornamentalen und architektonischen Formen vermitteln. Der Vierblattstern, jetzt dem gotischen Maßwerk angeglichen, hat diese Aufgabe zu erfüllen, und seine schräggestellte, ins Blühendere verwandelte Variante tritt an den Kren- zungs- und Begegnungsstellcn als Schwerpunktbildung auf. In ihr ver- brandet die letzte Welle malerischer Bewegung. 30

Niemand wird sich wohl dem edlen Reize dieser Ornamentbildungen entziehen können, die aus unser Gemüt noch in der gleichen Weise ansprechen, wie sie es zur Zeit ihrer Entstehung getan haben mögen. Vier Jahrhunderte haben dieser Formensprache nichts von ihrer Wirkung nehmen können, ja, einzelne dieser Ornamente sind in ihrer Haltung so vornehm-feierlich, daß sie sich über die Gebundenheit an irgendeine Formgesinnung weit erheben und durchaus zeitlos anmuten, ein neuerliches Zeichen dafür, daß alles wahrhaft Schöne nichts mit der stets sich wandelnden Zeit zu tun hat, sondern wie der Raum ein Ewigbeharrendes, ein unvergänglich Gültiges darstellt, und daß dieses wahrhaft Schöne aus tieferen Gründen quillt, als aus dem seichten Geplätscher der bloßen Mode. So wie die Musik eines Anton Bruckner ungeachtet ihrer ganz neuen Ausdrucksweise ihre nährenden Wurzeln tief in die Welten Bachs und Beethovens senkt, so kann jede andere große Leistung nur aus der Verbundenheit mit den Leistungen vorhergegangener Jahrhunderte erworben werden. Und zwar mühsam erworben werden! Alles andere ist höchstens für eine kleine Weile unterhaltend und interessant, wie alles vom Herkommen Abweichende. Aber wieder über eine kleine Weile spricht niemand mehr davon, oder man wundert sich höchstens über derartige Entgleisungen des guten Geschmackes. Was aber seinen Wert behält, kommt aus Schöpferhänden, die vom Blicke auf die unwandelbare Natur und von der tiefen Verbundenheit mit dem Wesen des Ursprünglich-Volk- haften geleitet sind. Es ist dann gleichgültig, ob der beschenkte Betrachter ein Kind der Durchgeistigung seiner Zeit ist oder ob er — davon unberührt — in Unwissenheit groß wurde. Beide, der Wissende und der unwissende Laie, werden staunend bewegt und ergriffen sein von Anmut und Schönheit, welche sie noch immer als ihre eigene Sehnsucht empfinden, in deren Zunge zu reden aber nur jenen beschieden ist, die sich die Aufgeschlossenheit der Natur gegenüber und die Reinheit des Herzens bewahrt haben. 31

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