Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1927

erschrak bis ins Innerste vor dem Fluch. Zu ihrer eigenen Beruhigung versuchte sie den Worten eine mildere Deutung zu geben, aber je mehr sie das wollte umso gräßlicher prägte er sich ihr ein und war durch nichts mehr zu vertreiben. Und wenn sie auch eine sehr verständige Frau war und auf keinen Fall aber gläubisch genanntwerden konnte, sobegann sie doch unter der Kenntnis jenes Fluches zu leiden. Wie schlimm waren doch ihre ersten Ehejahre gewesen, welcher Kummer, welche Sorge lasteten auf ihr und war doch alles nur wegen der „stillen Wettl“, von der auch dieser Fluch ausging. Die letzten Jahre waren so schön gewesen und am schönsten die letzte Zeil nach Karl Steighubers achtzehnten Ge¬ burtstage. Mit ihrer Schenkung an der Jungen schien alle Schuld vom Hause weggetragen und nun meldete sich das — alte Unheil wieder. Ja, wenn es nur bei der ersten Glockenabnahme bliebe aber dieser entsetzliche Krieg! grau, — kein sicht¬ bleigrau die ganze Welt barer Trost auf einen Frieden. Wie bald schon konnte es sein, daß das Erz der ersten Glocken nimmer reichte, dann mußte Dingstadt auch die Kaiserglocke geben. Unter solchen Foltergedanken wurde Frau Lukrezia ganz krank. Allem guten Zureden, sich zu schonen, setzte sie Hart¬ näckigkeit entgegen; sie wollte nicht krank sein, fühlte es aber selbst nur zu gut, wie fieberhaft sie sich in den Gedanken ab¬ zehrte, jetzt schon Hilfe zu ersinnen, wenn —eine zweite Glocken¬ das Mögliche abnahme — kommen sollte; denn was frug eine löbliche Metallzentrale viel um Dingstadt, was galt dem Reiche eine Glocke, die doch nur in Dingstadt klang So ersann Lukrezia eine List. Fand Michl sie krank und erholungsbedürftig, so sollte er auf einige Zeit mit ihr fort, so weit fort, als es eben die Kriegsver¬ hältnisse erlauben mochten. Dann sollten sie, wenn es schon sein müßte, auch die Kaiserglocke nehmen und zerschlagen. Konnte solches nur eine Zeit vor ihm verborgen bleiben, dann war auch das 101 größte Opfer gebracht, das Unheil für immer besiegt. Alles war wohl überlegt, als eines Tages der alte Herr Dekan bei Frau Lukrezia erschien und ihr die unabwend¬ bare Abnahme der Kaiserglocke mit zit¬ ternder Stimme eröffnete, aber dennoch traf Lukrezia diese Nachricht wie ein Messerstich; und troß aller Verbreitungen war doch in ihr immer die Hoffnung auf eine Rettung der Glocke stärker gewesen, als sie sich die ganze Zeit hindurch ein¬ gestanden. Lukrezia mußte zu Bett gebracht werden, der rasch gerufene Arzt fand aber keine Krankheit, der mit Medizinen bei¬ zukommen war, die Frau war nach seinem Urteile mehr im Gemüte als am Leibe krank geworden, weshalb er zu einem raschen Wechsel des Aufenthaltes, zu einer Reise in grüne, sonnige Welt riet, fort aus dem täglichen Getriebe in eine be¬ ruhigende Stille. Schon am dritten Tage rollte der Eisenbahnwagen mit Lukrezia und Michl südwärts. Ihr Köpfchen lehnte still und blaß an seiner Schulter, aber um ihren Mund spielte das zufriedenste Lächeln; denn sie wußte jetzt Dingstadt hinter sich, mochten sie dort nun treiben, was sie wollten. Das wohlige Gefühl des Geborgenseins kam mächtig über sie und gar bald wandelte sich die kranke Lukrezia wieden in die frühere sorgende liebevolle Frau. So fuhren sie dahin, aber so recht weit in den Süden hinein konnten sie nicht kommen, da alle Orte, die wegen ihres milden Winteraufenthaltes Ruf haben schon im engeren Kriegsgebiete lagen. Sie wählten daher Graz zum einst¬ weiligen Ziel, in der Hoffnung, in etlicher Zeit von seiten des Armeekommandos die Einreisebewilligung nach Bozen oder Meran zu bekommen, und hatten es mit dieser Wahl gut getroffen. In einem schönen Gasthof an der Mur nisteten sie sich wie ein junges Pärchen ein und Michl, den nicht zehn Pferde von seiner Arbeit weggebracht hätten, gestand nun ehrlich, an dieser

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