Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1905

Eine Flut von Gedanken zog an ihrer gemarterten Seele vorüber. Sie sah sich wieder als das heißgeliebte Kind zärt¬ licher Eltern, als der verwöhnte Liebling des Hauses. Sie gedachte der lieblichen goldlockigen Schwester, der Gespielin ihrer Kindheit. Sie erinnerte sich des Tages, an dem sie ihn, der jetzt ihr Gatte war, zuerst gesehen, erinnerte sich, wie rasch die Liebe zu ihm eingezogen war in ihr Herz, wie dieses Herz an ihm gehangen in leidenschaftlicher Glut. Aber auch der tiefe, qualvolle Schmerz wurde aufs neue lebendig in ihr, der sie ergriffen, als er seine Liebe nicht ihr, sondern der jungen Schwester zugewandt. Dann war ein Morgen gekommen; der Gedanke daran drohte, noch jetzt ihre Sinne zu verwirren. Sie war mit der Schwester an den See gegangen; das liebliche Kind hatte ihr die Geschichte seiner Liebe erzählt, daß es noch heute seine glückliche Braut sich nennen werde. Dann hatte es gebeten, ihm die Hand zu reichen, es wollte eine Blume pflücken in dem Wasser, eine Blume für den Ge¬ liebten! Und sie hatte die Hand gereicht, ja; aber dann war es wie Wahnsinn über sie gekommen, daß sie diese Hand plötz¬ lich zurückstieß! Erst als sie den Schrei der Ertrinkenden gehört, da hatte sie in wildem Entsetzen die Arme ausgestreckt, zu helfen, aber die Rettung kam zu spät! Sie war geflohen von dem Ort des Grausens — geschwiegen. Erst als der und hatte Gärtner Georg ihr bei der Abreise der Familie, die bald nach dem Tode der Schwester erfolgte, ein Tuch überreichte das sie an jenem Tage verloren, da wußte sie, daß ihr Geheimnis nicht ihr allein gehöre. Aber der Alte liebte sie ja so treu und zärtlich; es war behütet und geborgen bei ihm. Nur jetzt, im Angesicht des Todes würde er es aussprechen — ihrem Gatten! Verzweiflungsvoll schrie sie auf und sprang empor. Die kleine Uhr auf dem Kamin schlug die dritte Stunde und in demselben Augenblicke kam jemand mit schwerem Schritte langsam auf ihr Zimmer zu. — Es war ihr Gatte. Es gibt Frauen, die das Schaffot be¬ stiegen, die Rad und Folter erduldet und 29 doch nicht den Schmerz und die Qual erlitten, die Beatrice erlitt, als sie jetzt die Tür öffnete, ihrem Gatten entgegenzu¬ gehen. Bei dem schwachen Licht der Lampe blickte sie in ein lebloses Antlitz. Sie tat einen Schritt zu ihm hin! Sein Auge ge¬ wahrte sie; aber er streckte die Hand aus sie von sich abzuwehren, und Worte können das Entsetzen, die Qual nicht schildern die sich in dem Blick ausprägten, mit dem er dies tat. Ein einziger schwerer Seufzer —dann trat entrang sich ihren Lippen schloß die sie in das Gemach zurück und Tür. * * * Nacht und Schweigen ruhten über dem Schloß. Nichts unterbrach die tiefe Stille. Kein Laut verkündete, daß ein Menschen¬ ein Herz, das herz zur Ruhe gegangen — gekämpft und gelitten und vergeblich nach Frieden gerungen Graf Steineck hatte keinen Schlaf ge¬ sucht; still und unbeweglich saß er auf derselben Stelle, die ganze lange Nacht! Was sollte er tun? Wie handeln? Er fand keine Antwort auf die Frage. Nun eins stand fest: er wollte ihr Geheimnis be¬ wahren um jeden Preis. Sie würden sich trennen, aber keines Menschen Herz sollte jemals ahnen, weshalb! Die Kennt¬ nis ihrer Schuld nahm er mit sich ins Grab. Denn ach, sie war ja schuldig! Wie er sich auch gesträubt mit aller Macht, die Wahrheit hatte er erkennen müssen, als der sterbende Alte ihm das Geld zurückge¬ geben, dasselbe Geld, welches er am Morgen vor jener unvergeßlichen Reise selbst in ihre Hände gelegt. Da mußte jeder Zweifel schwinden. Und doch, sie war sein Weib, sein Weib, das er noch immer liebte, das jetzt gewiß in namenloser Qual seiner harrte. Er sprang auf und eilte zu ihr. Das Gemach schien leer. Doch nein, dort auf dem Lager ruhte Gräfin Steineck, noch bekleidet mit dem glänzenden Schmuck, aber stumm und starr — eine Leiche. Der Tod war schon vor Stunden an sie herangetreten. Mild und ruhig erschien das bleiche Antlitz;

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