Chronik der Stadt Reichenau

neuen evangelischen Glauben, der Gerechtigkeit und Gleichheit bringenden Heilslehre, strömten die deutschen Volksscharen dem Luthertume zu. Wie vor 100 Jahren Johann Hus, so wurde auch sein Nachfolger, der Reformator Dr. Martin Luther, von der römischen Kirche wegen seiner neuen Glaubenslehre der Ketzerei angeklagt und verdammt. Luther entging dem Schicksale seines Vorgängers Hus dadurch, daß ihn der Kurfürst von Sachsen auf der Wartburg vor der Verfolgung verborgen hielt. Die Lehre von der Gleichheit aller Menschen und die Verdeutschung der hl. Schrift sowie die Aufklärung der breiten Volksschichten durch Luther för¬ derten den Freiheitsgedanken der Bauern und des kleinen Volkes und führ¬ ten im 16. Jahrhunderte zu den gewaltigen Bauernaufständen, welche durch Jahrzehnte ganz Deutschland und einen Teil Österreichs durchtobten, sodaß Luther selbst entsetzt über die blutige Auswirkung seiner Lehre war. Der neue evangelische Glaube Martin Luthers verbreitete sich indessen nicht nur über Deutschland, sondern er fand auch Eingang in Österreich, Böhmen, England und Skandinavien. Aus den Reichenauer frommen ka¬ tholischen Christen, welche dem Hussitenglauben hartnäckig Widerstand lei¬ steten, waren im Laufe der priesterlosen Zeit dem neuen deutschen Luther¬ glauben mit Leib und Seele ergebene Anhänger geworden. Die dem römischen Christentum durch nahezu 600 Jahre dienende Kirche war in eine evan¬ gelische Lutherkirche umgewandelt worden Die Einführung des evangelischen Glaubens in Reichenau dürfte nach den verschiedenen Angaben um die Mitte des 16. Jahrhunderts stattgefun¬ den haben. Von evangelischen Pastoren wird in Reichenau im Jahre 1611 der aus Meißen in Sachsen gebürtige M. Andreas Kröll genannt, der in der ehema¬ ligen katholischen Holzkirche seinen Gläubigen im evangelischen Sinne das Wort Gottes lehrte und predigte. Nach der Aufschreibung im Reichenauer Pfarrgedenkbuche starb Pastor Kröll hier am 16. November 1619 und ist in dem Buche über seine Beerdigung folgende Niederschrift enthalten: „Den 16 Novembris 1619 zwischen 4 und 5 Uhr Nachmittags ist der ehrwürdige, acht¬ bare und wohlgelahrte Herr M. Andreas Kröll, Pfarrherr von Reichenau, in Gott selig verschieden, seines Alters 39 Jahr, als er der Kirche in Rei¬ henau treulich vorgestanden acht einhalb Jahr, ward begraben den 16. Julius n der Kirche vor dem Altare zu Reichenau. Ist ein Leichensermon durch Herrn Zacharias Peterwegen, Pfarrherren auf Langenbrückh, getan und die Leichenpredigt in der Kirchen durch Herrn Nikolann Sagittarium (zu deutsch Nikolaus Schütz), Pfarrherren auf Jabalanz (Gablonz), verrichtet worden.“ Als Krölls Nachfolger wirkte Pastor Justus Becker, welcher die Witwe Krölls geheiratet hatte. Peschek berichtet in seinem Werke „Böhmische Exu¬ lanten in Sachsen“ von einem tschechischen Pastor in Reichenau, Namens Krozius von Krozinovsky, der im Jahre 1648 in Zittau als tschechischer Schriftsteller gestorben sei. Ferner nennt die Geschichte jedenfalls als letzten Pastor in Reichenau Daniel Dentilius, welcher nach seiner Vertreibung aus Böhmen später ebenfalls in Zittau lebte und dort starb. In der Gegenreformation durch Kaiser Ferdinand II., von dem heute noch das geflügelte Wort in Geltung ist: „Ich werde euch schon wieder katho¬ lisch machen“, wurden die evangelischen Pastoren und Schulmeister, die fast durchwegs Reichsdeutsche waren, aus dem Lande verwiesen und das Volk zwangsweise wieder der katholischen Kirche zugeführt. Wenn auch in der Gegenreformation die evangelischen Geistlichen ver¬ trieben wurden, so hielten die Bewohner noch Jahrzehnte am evangelischen Glauben fest und viele Reichenauer gingen nach dem Berichte alter Leute an 47

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2