Chronik der Stadt Reichenau

mit einer Schüssel Sauerkraut bewirtet, bis die gesamte Hochzeitsgesellschaft wieder vollzählig beisammen war. Befand sich unter den Gästen ein Fleischer. Bäcker oder Kaufmann, so bewirteten diese abwechselnd die Hochzeitsgesellschaft aus ihren Geschäften einen Tag. Zum Schlusse spendierte irgend ein dazugehöriger Bauer ein Kalb, Ziege oder Schwein, und so kam es, daß sich viele Hochzeiten durch 5 bis 8 Tage mit zwei bis vier Huxtbieroubten hinzogen Eine berühmte Persönlichkeit war bei den Hochzeiten das „Kranzel¬ madel“ welcher von allen Seiten große Ehre angetan wurde. Bei der Tafel erhielt sie den Platz zwischen Braut und Bräutigam und beim Huxtbieroubte tanzten alle Männer mit ihr. Die ledigen Mädchen wurden bei der Hochzeit „Züchtjungfern“ und die männliche Jugend „Züchtburschen“ genannt. Un¬ ter den Bauern war es Sitte, daß, wenn die Braut in das Haus des Bräu¬ tigams übersiedelte, in der Regel die feierliche Hochzeitsfuhre am 8. Tage nach der Trauung stattfand. Zu dieser Fuhre versammelten sich noch einmal die Hochzeitsgäste, um den mit Möbeln, Butterfaß, Geschirr, Wäsche und Betten hochbeladenen Leiterwagen in das neue Heim zu begleiten. Der Wa¬ gen mit den vorgespannten Kühen gehörte mit zur Ausstattung An Ort und Stelle angekommen, wurde sofort die Wohnung eingerichtet, wobei an den Betten die Haken nicht eingehängt wurden, damit selbe beim Schlafengehen des jungen Paares zusammenbrachen. Diese Fuhre war gewöhnlich die letzte Zusammenkunft der Hochzeitsgäste und endete mit einer letzten Gasterei In früherer Zeit war unter den wohlhabenden Bauerntöchtern die Anzahl der Ausstattungs=Wäschestücke vom Herrschaftsamte genau vorge¬ schrieben. Eine Bauernbraut mußte 6 bunte Bettüberzüge, 2 Dutzend Hem¬ den, 1 Dutzend weiße und 1 Dutzend bunte Wollunterröcke, 3 Dutzend=Paar weiße und 2 Dutzend bunte Strümpfe, 2 Dutzend Handtücher, 1 Dutzend Bett¬ und Tischtücher und 3 Ballen Leinwand in die Ehe mitbringen Großen Wert legten die Mädchen auf die eigene Anfertigung ihrer Brautausstattung. Selbst gesponnenes Garn für die Leinwand, selbst mit der Hand genähte Bettüberzüge und Wäsche, selbst gestrickte Strümpfe waren der Stolz jeder Braut. Noch bis vor 50 Jahren begannen die Mädchen in den weiblichen Handarbeitsstunden in der Schule mit der Anfertigung ihrer Brautausstattung. In der heutigen technisch fortgeschrittenen Zeit in allen Industriegebieten mangelt dem Volke die Zeit zu solchen lange andauernden Hochzeiten und ahren die Brautpaare nur mit wenig Gästen in Landauern oder Automo¬ bilen zur Trauung. Auch die Silber= und Goldhochzeiten wurden in früherer Zeit unter zahl¬ reicher Beteiligung der Familienangehörigen, Freunden und Nachbarn voll¬ zogen. Die letzte große goldene Hochzeit fand in Reichenau am 22. Juni 1885 im Saale des Gasthauses „Zum goldenen Stern“ statt. Der ehemalige Flei¬ scher Augustin Peukert (Bindelflejscher, Moulerflejscher und Rutweste) feierte an diesem Tage seinen 50jährigen Ehestand. Außer den über 70 Personen zählenden Familienangehörigen waren noch gegen 250 Paar einheimische und ortsfremde Gäste eingeladen, die auch meistens alle an der Feier teilnahmen Unter den Geladenen befanden sich alle Geschäftsleute, Gewerbetreibenden und Honoratioren aus Reichenau und die Fleischermeister der weiteren Um¬ gebung. Bei der Hochzeitstafel war der Saal und die Gaststube von Gästen dicht besetzt. Alle Geladenen überreichten dem Goldenen=Hochzeits=Paare reichliche Geldgeschenke, der Ober=Müller Josef Preißler Nr. 1 spendete dem 135

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