Chronik der Stadt Reichenau

Helft ihr Heiligen allesamt —— denn es ist ja euer Amt, Daß ihr für die Menschen sorget, Uns einen gebet, der nicht borget der nicht faul und melancholisch, Krätzig, ketzerisch, doch streng katholisch, Nicht zu jung und nicht zu hager nicht zu alt und nicht zu mager, Der nicht schlemmet und nicht sauft nicht zu einer anderen lauft, Der nicht poltert und nicht wütet chmollet, eifert und mich hütet, Der mich läßt in allen Sachen: jedes nach meinem Willen machen“ Aus diesem Spruche ist zu ersehen, daß die Mädchen vor hundert Jahren auch schon sehr wählerisch und anspruchsvoll waren. Es gab in früherer Zeit viele Tage, an denen das Orakel über Schicksale befragt wurde. Am Barbaratage (4. Dezember) schnitten die heiratslustigen jungen Leute Zweige von verschiedenen Bäumen und stellten sie in ein mit Wasser gefülltes Glas. Blühten die Zweige am hl. Abende, stand für das nächste Jahr die Hochzeit in Aussicht. Zu Nikolaus (6. Dezember) werden heute noch die Kinder von dem Heiligen mit Gaben beschenkt. In früherer Zeit war das Nikolausspielen das Amt des Kantors. Mit einem langen umgekehrten Pelze bekleidet, langem Flachsbarte und einer Bischofsmütze auf dem Kopfe, einen Sack mit Apfeln und Nüssen umgehängt, mit roten Bändern verzierter Birkenrute ging er von Haus zu Haus und war von den Kindern wegen seiner strengen Prüfung aus dem Katechismus sehr ge¬ ürchtet. Die braven und fleißigen erhielten als Belohnung für ihr Wissen aus dem Sacke Apfel und Nüsse, während die faulen Kinder mit der Rute ernstlich gestraft wurden. Auch hingen die Kinder vor dem Schlafengehen einen Strumpf an den Fensterwirbel und beteten davor ein Vaterunser, daß der hl. Nikolaus über Nacht den Strumpf mit Süßigkeiten füllen möge In der Regel war auch der Strumpf früh mit Leckereien gefüllt, doch fanden auch manche Kinder nur Kohlenstückchen oder andere ungenießbare Sachen n dem Strumpfe. Es kam dann die langersehnte Vorweihnachtszeit oder der Advent, in der die Christkindel von Haus zu Haus gingen und ihre gut gelernten Lieder und Spiele vortrugen und die Kinder beschenkten. Es wa¬ ren gewöhnlich drei oder vier Kinder ärmerer Leute, die sich auf diese Weise ein Einkommen verschafften. Verkleidet war die Gruppe als Christkind in weißem mit Goldsternen besetzten Kleide, Petrus, Hirt und Engel. In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde das Christkindspielen den Kindern von der Schule verboten. Heute sammeln die Forscher und Ge¬ lehrten die alten Volksbräuche und bedauern, daß dieselben zum größten Teile schon der Vergangenheit anheimgefallen sind. Am hl. Abende erstrahlt eit ungefähr 100 Jahren ein Christbaum auf dem Tische, in früherer Zeit war es Sitte, daß siebenerlei Speisen auf den Tisch gebracht wurden, worun¬ ter eine Schüssel Hirsepappe (Brei) nicht fehlen durfte. In vielen Häusern wurde wochenlang an der Weihnachtskrippe geschnitzt und gebaut. Besonders im Sudetenlande erlangten diese Weihnachtskrippen wegen ihrer künstle¬ rischen Ausstattung eine weit und breit bekannte Berühmtheit Besondere Krippenbaukünstler und Liebhaber statteten ihre Krippen mit mechanischen Gangwerken, wie Uhrwerk, Wasser= oder Schneckengetrieben aus, wodurch sich alle Figuren auf der Krippe bewegten. Auch kunstvolle Flötenwerke wurden in manche Krippe eingebaut, die Kirchenlieder spielten. In Reichenberg war ein eigener Krippenmarkt, auf dem von Bildhauern geschnitzte Figuren und Triebwerke verkauft wurden. 154

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