Chronik der Stadt Reichenau

(Richtersseffel) ordnete Kraft seiner Amtsgewalt an, daß jeder von den Bauern auch für die arme Bevölkerung eine Martinigans bei ihm abzulie¬ ern habe. Diese Freigänse wurden in der Schänke geschlachtet, gebraten, Fleisch, Fett und Federn unter die armen Leute verteilt. Um das Jahr 1820 kaufte Fürst Rohan vom Grafen Waldstein die Herrschaft Swijan. Nach der Besitzübernahme verzichtete Fürst Rohan großmütig wie auf manche andere Leistung auch auf die Lieferung der Martinigänse. Durch diese Verzichtleistung des Fürsten und einen neuernannten Richter unter¬ blieb auch die Spende der Freigänse an die armen Leute. Die folgenden Hungerjahre und Revolutionszeit trugen wohl mit bei, daß in Reichenau die durch lange Zeit in Ehren stehende Martinigans allmählich in Vergessen¬ heit geriet. Doch wird im Niederlande und auch im Deutschen Reiche der alte Volksbrauch noch gepflegt und zu Martini duftet eine gut gebratene Gans am Tische. Der St. Andreastag (30. November) zeitigte im Landvolke ebenfalls tief eingewurzelte Sitten und Gebräuche. Hauptsächlich in der heiratsfähigen Jugend beider Geschlechter war die Abend= und Morgendämmerung des Andreastages von hoher Bedeutung. Am Vorabende warfen die jungen Leute ihre Pantoffeln mit den Füßen nach rückwärts über den Kopf; lag der Pantoffel mit der Spitze gegen die Tür, so stand im nächsten Jahre eine Heirat in Aussicht. Fiel der geworfene Pantoffel mit der Ferse gegen die Tür, so war an eine baldige Heirat nicht zu denken. Am frühen Morgen des Andreastages gingen die heiratslustigen Mäd¬ chen zu einem Teiche oder Wassertümpel, um im Wasserspiegel das Bild des Zukünftigen zu erblicken. Einem besonders heiratswütigen älteren Mäd¬ chen (Polds Hanns Drese) passierte es, daß ihr beim Suchen nach dem Ehe¬ liebsten in dem heute ausgefüllten Wasserloche beim Hause Nr. 46 der er¬ sehnte Bräutigam vor der Nase ins Wasser plumpste. Das kam so, ein Nachbarssohn, der die Heiratsabsichten des Mädchens auf seine Person kannte, von ihr aber nichts wissen wollte, versuchte ihr einen Schabernack zu spielen, er kannte die Gewohnheit des Mädchens, am Andreasmorgen in dem Spiegel des Wasserloches ihren Bräutigam zu suchen. Er kletterte frühzeitig auf einen den Tümpel umgebenden Weidenbaum. Als das Mäd¬ chen kam und sich über dem Wasser beugte, rückte der Bursche auf dem Baumaste weit vor, um im Wassertümpel zu erscheinen. Da gab es aber plötzlich einen Krach, der Ast brach und der Bursche plumpste kopfüber in das Wasser. Das erschreckte Mädchen lief schreiend davon, und aus der ersehn¬ ten Heirat wurde nichts und die Sehnsuchtsbraut starb als alte Jungfer. Viele Verse und Sprüche wurden von der heiratslustigen Jugend aus¬ wendig gelernt und bei den verschiedenen Bräuchen am Andreastage auf¬ gesagt. In dem Buche von Augustin Weiß befindet sich ein derartiger Beschwö¬ rungsspruch vom Jahre 1830 und soll derselbe zum Gedenken der heutigen und späteren Jugend in unserer Heimatsgeschichte niedergeschrieben werden. „Ach du lieber Florian bescher mir einen frommen Mann! Ach du lieber hl. Veit bescher mir einen, es ist schon Zeit! —— Ach hl. Andreas bescher mir einen, der nicht bös! 153

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