Chronik der Stadt Reichenau

Brette umzukehren, was ihm aber wegen der Schmalheit des Brettes nicht gelang und in seiner Todesangst unaufhörlich meckerte. Das schaulustige Volk johlte vor Vergnügen über die Kapriolen des Bockes, bis er endlich mit einem Schwunge herabgestürzt wurde und mit zerschmetterten Gliedern am Boden lag. Er wurde gleich abgestochen, geschlachtet, gebraten und abends mit Wohlbehagen von den Gästen verzehrt. Im oben genannten Jahre kam als erster Arzt Dr. Franz Möller nach Reichenau und war Zeuge des blutigen Schauspieles im Bockstürzen. An Ort und Stelle ließ Dr. Möller ein Donnerwetter gegen die bar¬ barische Unsitte der Tierquälerei los und bewog den Dilettanten= und Ge sangverein, die Schänke zu boykottieren, wenn Schenkfranz nicht ehrenwört¬ lich das Versprechen gäbe, in Hinkunft nicht mehr das der Zivilisation hohn¬ sprechende grausame Bockstürzen zu veranstalten. Schenkfranz gab das Versprechen und hielt es auch. In Reichenau wurde im Jahre 1859 auf Veranlassung Dr. Möllers der letzte Bock gestürzt. Nach dem Bockstürzen wurde am selben Donnerstage die Kirmst begra¬ ben. Zu dieser Volksbelustigung legte sich ein trinkfester Mann als Kirmst¬ leiche auf den Fußboden, wurde mit einem weißen Leinentuche zugedeckt, von 4 Männern auf die Schultern genommen und unter Vorantritt der Musikkapelle um die Schenke getragen, sodann an einem stillen Orte nieder¬ gelegt. Die lebendige Leiche durfte das Gastlokal erst nach Mitternacht wie¬ der betreten und wurde dann die Auferstehung gründlich begossen und ge¬ eiert. Das Hahnschlagen wird ja heute noch von einzelnen Vereinen veranstal¬ tet und erübrigt sich eine nähere Beschreibung. Nach der Kirmst folgt als nächste pietätvolle Feier „Allerheiligen“ an welcher nach altem Volksbrauche die Lebenden ihrer Verstorbenen durch Ausschmücken der Gräber gedenken. Ein alter, wohl schon über hundert Jahre aufgelassener Volksbrauch war der Martini=Gänsebraten. Als die Herrschaft Swijan, zu welcher auch Reichenau gehörte, noch im Besitze der Grafen von Waldstein war, hat¬ ten die 7 Reichenauer Großbauern je eine gut gemästete Gans am Tage „Martini“ (am 11. November) an die Herrschaftsküche abzuliefern. Der Fronbüttel kam drei Tage vor Martini mit einem Fuhrwerke und suchte sich aus der Herde die beste Gans aus. Derselben wurde an Ort und Stelle der Hals durchschnitten und mit dem noch warmen Blute bestrichen die Bauernweiber die Stubenbalken. Diesem Balkenbestreichen mit dem Gänse¬ blute mag wohl auch der Brauch zu verdanken sein, daß in alten Bauern¬ häusern heute noch die Stube mit Rindsblut angestrichen wird, wodurch sie einen tiefschwarzen Glanz erhält und mit den mit Kalk bestrichenen Spalten und alten Möbeln ein gemütlich anheimelndes Bild bieten. Bei dem unentgeltlichen Abliefern der Gänse an die Herrschaftsküche mag wohl manchem Bauern der Gedanke gekommen sein, sich ebenfalls einen Martins=Gansbraten zu gönnen und so kann sich der Brauch von der Mar¬ tinigans eingebürgert haben. Der herrschaftliche Richter Maschke Nr. 23 152

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