Chronik der Stadt Reichenau

auf der Wiese unterhalb der Buche eine feurige Kalbin ohne Kopf gesehen zu haben und ließ sich den Spuck auch nicht ausreden. Die Sache war jedoch auf sehr einfache Weise zu erklären. Auf dem sumpfigen Wiesengrunde standen Weidensträucher und vermorschte Baumstöcke, die in der Nacht phos¬ phoriszierten und aus diesen Irrlichtern ließen sich mit einiger Phantasie die verschiedensten Gestalten zusammenformen. Der Diebsspiegel und die schwarze Nase spielten in der Zeit des Aber¬ glaubens eine bedeutende Rolle und sei eine Episode aus dieser Zeit hier niedergeschrieben, für deren Wahrheit der Verfasser bürgt, da er sie selbst miterlebte. Die Eltern des Verfassers hatten die Bauernwirtschaft Nr. 33 im Besitze und bauten in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts auf den Feldern noch Flachs an. Nach der Ernte wurde der Flachs gedörrt, auf der Flachsbreche weichgepreßt, gehächelt, im Winter gesponnen oder auch roh verkauft. Bei der Verarbeitung des Flachses war auch ein älteres Mädchen aus der Nachbarschaft beschäftigt. Der Flachs wurde über Nacht auf dem Hausgange liegen gelassen und am nächsten Morgen waren einige Bund verschwunden. Die Spur des verstreuten Flachses führte bis in das Wohn¬ haus der Arbeiterin, die am nächsten Morgen ganz fröhlich und ungeniert wieder in die Arbeit kam. Im Laufe des Tages kam der Bruder Franz des Vaters, Gastwirt „Zum Eisenbahnviadukt“ auf Besuch und wurde bei dieser Gelegenheit in Anwe¬ senheit der Arbeiterin von dem gestohlenen Flachse gesprochen. Onkel Franz, ein gewitzter Mann, wußte gleich Rat und sagte, daß es die Diebin anhören mußte: „Morgen fahre ich nach Zittau und schaue dort in den Hexenspiegel, da sehe ich darin, wie der Dieb den Flachs stiehlt und lasse ihm eine schwarze Nase machen, mit der er Zeit seines Lebens herum¬ laufen muß“. Der Diebin fuhr in ihrem Aberglauben der Schreck in alle Glieder und am nächsten Morgen war der gestohlene Flachs wieder an seiner Stelle. Die Furcht vor dem Diebsspiegel und der schwarzen Nase hatte das Wunder bewirkt In der Walpurgisnacht ritten die Hexen auf einem Ziegenbocke oder Besenstiele durch den Kamin nach dem Blocksberge zum Hexentanze. Am Vorabende (Wolperoubt) wurden auf den Höhen noch in unserer Zeit Feuer angezündet und kommen wir mit diesem Punkte zu den alten Volksbräuchen in unserer Heimat. An den besagten Wolperoubten durchzog die männliche Jugend mit Pi¬ stolen und selbstgemachten Schlüsselbüchsen und ebensolchem Pulver den Ort und feuerte gelegentlich Schüsse ab. An die Stalltüren und Scheunentore wurden mit Kreide 3 Kreuze gezeichnet, um den Hexen und bösen Geistern den Zutritt zu verwehren. Am Faschingdienstage gingen die Kinder der ärmeren Leute mit Ge¬ sichtsmasken und als Fastnachtsnarren verkleidet von Haus zu Haus, um Gaben einzusammeln. Nach seiner Gründung veranstaltete der „Allgemeine Kranken=Unterstützungsverein“ durch einige Jahre einen großen Masken¬ zug mit Musik durch den Ort. Auch die Pferdebesitzer hielten einen beritte¬ nen Maskenzug ab. Bis um das Jahr 1850 war auch das Ostersingen der Kinder in Rei¬ chenau üblich, doch wurde dieses Östersingen den Kindern vom damaligen Pfarrer Franz Neuber wegen eines böswillig verschuldeten Todesfalles eines Knaben verboten. Im Kellnerwirtshause Nr. 119 saß ein stark ange¬ trunkener Gast aus Radl, als eine kleine Schar Kinder in die Gaststube Ostersingen kam. Der Radler Gast ließ den Kindern in seinem Rausche 150

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