Chronik der Stadt Reichenau

ben. Heute gehen die Rekruten nach der nur eine Wegstunde entfernten Bezirksstadt Gablonz zur Assentierung und dienen bei der Ersatzreserve Wochen, Landwehr 14 Monate und als aktive Mannschaft 3 Jahre. Öster¬ reich hat seit dem bosnischen Feldzuge in den Jahren 1877 bis 1878 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts mit den Nachbarstaaten in Frieden gelebt und wollen wir hoffen, daß auch in Zukunft der Friedensengel über unserem deutschen Volke und unserer Heimat Reichenau walten möge. Seit Urbeginn der Menschheit haben Kämpfe und Kriege der Völker untereinander stattgefunden und hat es den Anschein, als ob Kriege gleich Gewittern und Erdbeben der Natur unterworfene Gesetze seien und die trotz Friedens= oder Völkerbund bis zum Ende der Menschheit fortbestehen werden. Vereinswesen. In Reichenau konnte sich wohl in der früheren Zeit des Lohnspinnens und =Webens infolge der geringen Verdienstmöglichkeit und immer wieder¬ kehrenden Hungersnöten keine Vereinstätigkeit entwickeln. Auch die man¬ gelhafte Schul= und Geistesbildung der breiten Volksschichten ließ keine gesellschaftliche Gründung aufkommen. Dilettanten=Verein. Erst die Dosenindustrie und die aus derselben hervorgegangene Olma¬ lerei brachte durch lohnenderen Verdienst und höhere Geistesbildung die Vereinsgründungen zur Geltung. Als erster höheren Zielen zustrebender Verein wurde im Revolutionsjahre 1848 von den kunstsinnigen Malern auf Anregung des Begründers der Olmalerei Ignaz Müller in Nr. 198 (Müller Naz) der Theater=Dilettantenverein ins Leben gerufen. In unserem Heimatsorte Reichenau machte sich schon unter den Dosen¬ arbeitern zu Anfang des 19. Jahrhunderts der Drang nach theatralischer Betätigung geltend und war es das Passionsspiel, oder die Aufführung des „Leiden Christi“, das sich die angehenden Theaterkünstler in den Fabriks¬ räumen einübten und zur Aufführung auserkoren. Mit primitiver Thea¬ terbühne und ebensolcher Garderobe fuhren die Künstler, ihre gesamte Aus¬ rüstung auf einem Handwagen mit sich nehmend, in der Fastenzeit nach Eisenbrod, Semil, Turnau und Böhm.=Aicha, um dort der Bevölkerung ihr Passionsspiel vorzuführen. In Ermangelung der heutigen Trikotbekleidung pielten die Männer mit nackten Beinen und Oberkörper, was aber der Heiligkeit der Handlung keinen Abbruch tat. Einmal kam es in Böhmisch Aicha zu einem sensationellen Zwischenfalle. „Houfegust“, der bei der Kreu¬ zigung einen Schächer spielte, war am ganzen Körper dicht und schwarz behaart. Als er am Kreuze hochgezogen wurde, ertönte plötzlich aus dem dunklen Zuschauerraume eine helle Stimme: „Jeses, dou häng se naben Christus'n an Bar uff“. Mächtiges Gejohle erhob sich unter den Zuschauern, mit der Andacht war es vorüber und der Vorhang mußte fallen, Houfegust durfte nicht mehr mitspielen. Mit großen Vorräten an Lebensmitteln und auch klingender Münze kehrten die Spieler von ihren Wanderfahrten heim. Die erste Theateraufführung veranstaltete der erst neu gegründete Dilettanten=Verein in der Adventzeit des Jahres 1848 im Saale „Zur gol¬ denen Sonne“ (alter Saal). Die jungen Theaterkünstler stellten sich gleich eine gewaltige Aufgabe, indem sie als ihr erstes das schwierige Schauspiel Wilhelm Preißler: „Chronik der Stadt Reichenau“. 9 129

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