Chronik der Stadt Reichenau

verlangte Entschädigung aufbauen ließ und das alte, weiter rückwärts ste¬ hende Holzhaus demolierte. Johann Müller betrieb jedoch in dem neuge¬ bauten Hause das Bäckergewerbe nicht mehr, sondern erbaute aus dem ihm ebenfalls gehörenden Wohnhause Nr. 129 im Niederdorfe die Mahlmühle (Zolkermühle) und hatte auch dort bis zu seinem am 10. Jänner 1885 er¬ folgten Tode stets eine Menge Prozesse mit seinen Nachbarn und Geschäfts¬ leuten auf Lager, teils aus Grenzstreitigkeiten und Geldangelegenheiten Sogar die Gemeinde Reichenau konnte trotz öfterer Mahnungen mehr als 30 Jahre keine Steuern von dem Manne erhalten. Ein großer Bund Pro¬ zeßakten befindet sich noch beim jetzigen Besitzer der Realität Nr. 129, Herrn Rudolf Wenzel und wurden diese dem Verfasser zur Verfügung gestellt. In dem ebenfalls der Bahn= und Straßenkreuzung nahestehenden Bau¬ ernhause Nr. 83 (Kaschenwirtschaft) hatte der noch junge Kaufmann Anton Peukert einen Kausladen errichtet (1851). Das Haus mußte wegen zu großer Nähe der Eisenbahn ebenfalls abgetragen werden, doch ging die Ab¬ lösung durch die Bahnverwaltung ohne Prozeß vorüber, da Anton Peukert eine vernünftige Preisforderung stellte, die auch von der Bahn bewilligt wurde. Anton Peukert kaufte die Bauernwirtschaft Nr. 81, ließ das alte hölzerne Wirtschaftsgebäude abtragen und errichtete an der Stelle das noch heute in gutem Ansehen stehende Kaufmannsgeschäft Gleichzeitig mit dem Bahnbaue wurde auch die Liebenau—Gablonzer Bezirksstraße erbaut. Wie die alten Leute berichten, sollte diese Straße von der Schneidermühle ab im Talgrunde, der Mohelka entlang durch den Eisen¬ bahnviadukt über den Markt durch den Ort bis zur Puletschneier Ortsgrenze und von dort durch den Puletschneier Gemeindewald nach Kukan, Seiden¬ chwanz und Gablonz führen. Die damaligen Ortsvertreter fürchteten jedoch in einem Kriegsfalle das Requirieren der durchmarschierenden Truppen und ließen zum Schaden des Ortes die Straße bei der Kirche hinauslegen. Der Besitzer Maschke des Gasthauses 119 (Kellnerwirtshaus), der auch Gemeindevertreter war und in dessen Gasthause die Ingenieure der Bau¬ leitung verkehrten, brachte es so weit, daß die Straße anstatt der Mohelka entlang bei seinem Gasthause vorüber geführt wurde, durch welchen Umstand die Straße eine bedeutende Steigung erhielt. Nach dem Eisenbahnbaue wollten sich Glasexporteure und Fabrikanten in Reichenau ansässig machen, erhielten aber weder von der Gemeinde noch von den Bauern den nötigen Baugrund, aus Furcht, daß die arme Bevöl¬ kerung in die Fabriken gehen würde und die Bauern und Dosenerzeuger keine Arbeiter für ihre Zwecke erhalten könnten. Durch diese Kurzsichtigkeit und nicht entschuldbare Handlungsweise der damaligen Gemeindevertretung blieb Reichenau das arme und rückständige Dorf, bis die Olmalerei voll zur Blüte kam und die Glasindustrie sich im Orte ausbreitete. Nach dem Bau der Eisenbahn hörten die im Laufe der Zeit immer wie¬ derkehrenden Hungersnöte und Teuerungen in unserer Gegend auf, da die Eisenbahn schnell und billig die erforderlichen Lebensmittel zur Stelle schaffte. Die bisher zur Feuerung in Reichenau unbekannte Braun= und Steinkohle wurde nun fuhrenweise in Langenbruck oder Reichenberg zum Preise von 44, bezw. 60 kr. pro Zentner geholt. Die Erzeugnisse des Gab¬ lonzer Bezirkes in Glas, Bijouterie und anderen Waren gingen nun auf kurzem Wege nach Reichenberg oder Liebenau, um von dort mit der Eisen¬ bahn nach aller Herren Länder verfrachtet zu werden. Täglich kamen von Gablonz Wagenzüge von 5—8 Gespannen durch Reichenau nach Liebenau mit Fracht, um nachmittags schwer beladen wieder nach Gablonz zurückzu¬ kehren. 104

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