Chronik der Stadt Reichenau

In den Jahren 1857—1858 wurde die Süd=Norddeutsche Verbindungs¬ bahn von Pardubitz nach Reichenberg gebaut und sollte Reichenau ohne ahnhof oder Haltestelle durchfahren werden. Erst nach langwierigen Be¬ chwerden und Bittgesuchen der Gemeinde und Bezirksverwaltung an die Bahndirektion erhielt Reichenau an der entlegensten und schwer zugäng¬ ichsten Stelle, im „Grundloche“ eine Haltestelle, da dieselbe von der Be¬ völkerung der nahen Stadt Gablonz am ehesten zu erreichen war. Für Reichenau bedeutete der Entgang eines Bahnhofes oder Personen¬ haltestelle an besser gelegener Stelle im Orte einen großen materiellen Schaden. über die Zeit des Bahnbaues durch 2 Jahre herrschte in Reichenau regstes Leben, viele Bewohner des Ortes fanden beim Bahnbaue Beschäf¬ tigung, viele Ingenieure, Bauleiter und fremde Arbeiter ließen viel Geld in Kaufläden und Gasthäusern aufgehen, auch kam es zu großen Raufereien zwischen fremden und heimischen Arbeitern. Beim Grundgraben zum Via¬ dukt mußte bis in beträchtliche Tiefe gegangen werden, ohne jedoch steinigen Grund zu finden. Starke versteinerte Eichenstämme wurden aus dem Moor¬ frunde zutage gefördert, ebenso fand man in der Tiefe Tongefäße und Scherben, denen man in Unkenntnis des geschichtlichen Wertes keine Beach¬ tung schenkte Am 1. Mai 1859, um 9 Uhr vormittags, hielt der erste Personenzug in Reichenau, von den Herren der Gablonzer Bezirksbehörde und der Reiche¬ nauer Gemeindevertretung feierlich empfangen. Eine große Menschenmenge hatte sich im Grundloch angesammelt, um das noch nie gesehene Wunder zu bestaunen. Gleichzeitig mit dem Bahnbau entwickelten sich wegen der Grundent¬ eignung und der Eisenbahnverwaltung bezw. den Grundeigentümern lang¬ wierige Prozesse. Mehrere Häuser mußten abgetragen werden, so die Nr 75, 83 und 85. Das der Familie Preißler in Nr. 75 gehörige Wohnhaus wäre fast unter den Viadukt zu stehen gekommen, wurde deshalb abgelöst und gänzlich abgetragen. Bezüglich des Bäckermeisters Johann Müller Nr. 76 (Beklangs) gehörenden Hauses schwebte zwischen dem Eigentümer und der Bahndirek¬ tion ein zweijähriger Rechtsstreit, aus dem einige bemerkenswerte Schrift¬ stücke hier Raum finden sollen: „Klageschrift des Johann Müller an die Eisenbahn¬ unternehmer! Durch den Eisenbahnbau wird mein Haus so verunstaltet und die Kom¬ munikation wird mir so abgeschnitten, daß es für mich zu meinem Bäcker¬ gewerbe fast unbrauchbar geworden ist. Dieses mein Haus Nr. 76 in Reichenau steht bereits zwischen 11——12 Klaftern vom Nullpunkte der Bahn entfernt und ist der Feuersgefahr im höchsten Grade ausgesetzt, so zwar, daß nach den gesetzlichen Bestimmungen, mit Rücksicht auf die Feuersgefahr, die leicht die ganze Gemeinde treffen kann, die Demolierung des Hauses höchst notwendig erscheint und eine bloß oberflächliche Feuerschutzbaute gar nicht zulässig ist. Da ich Bäcker von Profession bin, so habe ich den Holzvorrat immer auf einem feuerfreien Orte ohne Behälter auf meinem Grunde stehen gehabt. Durch den Eisenbahnbau kann ich der Feuersgefahr wegen das Holz nicht mehr aufschichten, sondern es ist ein feuerfester Holzvorratsschupfen höchst notwendig. Durch den noch angebauten Viadukt wird mir an dem einen Seitenteile des Hauses aller Ausgang und Eingang unbequem gemacht, und kurz gesagt, ich habe auf allen Seiten viel Schaden. 101

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