Chronik der Stadt Reichenau

Neben den bisher vermerkten Industriezweigen wie: Spinnen, Weben, Dosenerzeugung, Olmalerei, Glasbranche und Gürtlerei soll noch ein eigen tümliches, nur in Reichenau heimisches Gewerbe erwähnt werden. Es sind dies die Tuchschuhmacher, welche seit vielen Jahrzehnten unsere sowie auch die Bevölkerung der weiteren Umgebung mit leichter und warmer Fußbe¬ kleidung versorgen. Viele Familien beschäftigen sich mit der Erzeugung von verschiedenen Tuchschuhen, welche auch für die ärmeren Leute einen nicht unbedeutenden Handelsartikel bildeten. Die Tuchschuhe, hohe und niedrige, wurden zumeist aus alten, abgetra¬ genen Tuchkleidern hergestellt. Die Sohlen bestanden aus zehn= bis zwölf¬ ach aufeinander mit Kleister geschmierten Tuchstreifen, die dann gesteppt wurden, wodurch sie eine ziemliche Haltbarkeit erhielten. Die Tuchschuhe wurden von unserer Bevölkerung nicht nur im Winter, sondern wegen ihrer Leichtigkeit auch im Sommer getragen. Tausende Paare wurden all¬ jährlich von Händlern ins Gebirge und weit unter Reichenberg verhausiert. Viele Tuchschuhe wurden auch nach Polen, Steiermark und Tirol verschickt Die Preise waren je nach Material und Arbeit verschieden und schwankten zwischen 15 kr. bis 1 fl. für das Paar. Heute beschäftigen sich nur noch wenige ältere Leute mit der Tuchschuherzeugung, da dieselbe schon in Fabriken in großen Mengen hergestellt werden und unsere Tuchschuhmacher in der Glas¬ industrie lohnendere Beschäftigung fanden, so daß dieser Industriezweig im Aussterben begriffen ist. Durch 25 Jahre war auch die im Jahre 1867 von einer Aktiengesellschaft gegründete Ziegelei an der heutigen Schillerstraße eine Erwerbsquelle für die Reichenauer Bevölkerung. Im Jahre 1882 wurde die Ziegelei von der Gemeinde in Betrieb übernommen und ging während eines Ziegelbrandes am 10. September 1892 in Flammen auf In Reichenau sind wohl alle Gewerbe und Professionisten vertreten, die für die Bedürfnisse der Bürgerschaft von der Wiege bis zum Grabe sorgen. Für den Bau und Instandhaltung der Häuser sind je ein Maurer= und Zim¬ mermeister tätig. Zwei Steinmetzmeister finden genügend Beschäftigung in der Bearbeitung in den für Neubauten nötigen Stufen, Türsäulen, Fenster¬ köpfen, Fassadesteinen und Zaunsäulen. An eisen= und metallverarbeitenden Gewerben sind 2 Schmiede, 2 Schlosser, 3 Klempner, 1Kupferschmied und 1 Graveur vorhanden. Für den Lebensmittelbedarf sind 7 Fleischer, 7 Bäk¬ ker, 4 Mühlen, 3 Gemüsehändler, 21 Gasthäuser, 3 Kohlenhändler und 10 Tabaktrafiken, für die Bekleidung 3 Schnittwarengeschäfte, 5 Herrenschneider, 3 Damenschneiderinnen und 7 Schuhmacher tätig. Für den Eintritt des Men¬ schen in das Leben sind zur Beihilfe 2 Hebammen bereit und bei seinem Ableben sorgt die Leichenbestattung Karl Wenzel für die überführung zur letzten Ruhestätte. Mit dem Emporwachsen der Industrie in den letzten 50 Jahren des 19. Jahrhunderts stieg wohl auch die Lebensführung und die Bekleidung der Bevölkerung. Unsere ersten Vorfahren von Reichenau, die nur auf die Produkte der Natur angewiesen waren, würden staunen über die Industrie der Neuzeit, sowie über die Vielfältigkeit und große Auswahl von Lebens¬ mitteln bei Kaufleuten, Bäckern und Fleischern. Ebenso würden sich unsere Urgroßväter über die moderne und wenig haltbare Kleidung wundern. Sie waren es gewohnt, ihren Bräutigamsanzug, ihren dunkelblauen Tuchmantel mit den vielen Kragen und ihre Stiefel auf Sohn und Enkel zu vererben, während sich heute wohl jedermann einen oder mehrere Anzüge im Jahre kauft und die Frauen und Mädchen im Jahre einige Paar Schuhe verbrau¬ chen. Zum Tode erschrecken würden unsere Vorfahren, wenn ihnen plötzlich Wilhelm Preißler: „Chronik der Stadt Reichenau“. 7 97

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