Chronik der Stadt Reichenau

Kunststätte für Olmalerei berühmt. So wurde Ignaz Müller neben Johann Schöffel zum Begründer einer Industrie, welche unserer Bevölkerung schon über ein Jahrhundert lohnenden Verdienst bringt. Leider hat es unsere Bürgerschaft bis heute versäumt, jene Männer, die in der schlimmsten Notzeit unseres armen Weberdorfes durch mühe= und opfervollen Schaffensgeist der notleidenden Bevölkerung wieder Verdienst und Brot schufen, den Dank durch ein Zeichen der Anerkennung oder blei bendes Denkmal abzustatten. Diese Männer, Johann Schöffel und Ignaz Müller, hätten es wohl reichlich verdient. Viele der Schule entwachsenen Burschen und auch Dosenmaler wandten sich der gut bezahlten Olmalerei zu, vor den meisten Fenstern der Häuser erblickte man in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts und noch päter eine Staffelei mit einem an einem Heiligenbild, Historien= oder Land¬ chaftsbilder schaffenden Maler. Die Dosenmalerei wurde in den letzten Jahrzehnten zumeist von Frauen ausgeführt Die jungen Maler strebten nach höherem Wissen und Bildung, entwik¬ kelten sich zu einer eigenen, lebensfrohen Kaste, gründeten im Jahre 1848 den „Theater=Dilettantenverein“ und im Jahre 1849 den noch heute beste¬ henden Gesangverein „Liederkranz“. Den Malern muß das Verdienst zu¬ gesprochen werden, die bis dahin im Dämmerzustande des Aberglaubens und der Unwissenheit lebende Bevölkerung von Reichenau zu neuem geistigen Leben erweckt zu haben Nach dem Revolutionsjahre 1848 begann wie allerorts auch für Reichenau eine körperliche und geistige Umstellung in Schule und Wirtschaft platzzu¬ greifen. Der bis dahin gehemmte Verkehr schuf sich freie Bahn und führte zur Belebung der Industrie und Handel. Reichenau empfand diesen Um¬ schwung in wohltuender Weise. Der Malerei hielt die aufblühende Glas¬ ndustrie gleichen Schritt Nach dem Kriegsjahre 1866 kamen für Reichenau und Umgebung zwei glückliche Jahre des Geldverdienens. Es war die Flisselzeit oder die so¬ genannte Zeit des Goldregens. Die Flissel waren schwarze, durchlochte Halbkugeln von 6—10 mm Durchmesser, die in Unmassen gedruckt, geschliffen, odann im Feuer poliert wurden. Das Schleifen war eine sehr gut bezahlte Arbeit und warf sich alles, selbst Professionisten und Maler, auf die Flissel¬ schleiferei. Es soll vorgekommen sein, daß besonders gewinnsüchtige Fakto¬ ren einen Sack voll Druck in die Mohelka warfen und mit den Füßen darau herumtraten, wodurch die Scherränder absprangen und die Flissel zerkratzt wurden. Im Feuer poliert, angefädelt, erhielten sie die Ware auch bezahlt. Das leicht verdiente Geld ließen sie in Asche aufgehen, indem sie sich ihre Pfeisen und Zigarren mit 5= oder 10=Gulden=Banknoten anzündeten. Im Jahre 1866 nach dem Preußenkriege kam Kaiser Franz Josef I. nach Böhmen, um die Schlachtfelder zu besichtigen. In Gablonz fragte der Kaiser den Bezirkshauptmann, ob er für die Bevölkerung etwas tun könne. Der Bezirkshauptmann erwiderte hierauf: „Majestät, unser Bezirk ist überreich mit Geldverdienen gesegnet, so daß sogar die Schulkinder wöchentlich 5 fl. verdienen.“ Nach der Flisselzeit verlegten sich die bis zu dieser Epoche ungeschulten Schleifer auch auf andere Artikel, und waren es die Kamsiere (Charmoisiere), heute Chatons genannt, welche durch einige Jahrzehnte guten Absatz fanden, bis die Technik moderne Maschinen erfand und die Kamsiere in großen Fa¬ briken maschinell geschliffen und poliert werden, wie es heute mit vielen anderen Sorten von Glassteinen geschieht, wodurch zum großen Teile die heutige Arbeitslosigkeit in unserer Glasindustrie verschuldet wird. 96

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