Oberösterreich, 25. Jahrgang, Heft 4, 1975

Eine Art Vertrauensperson August Karl Stöger „Diese lächerlichen Zufälligkeiten", sagte Lehrer S., „oder diese furchtbaren Zufälligkeiten... sehen Sie, ich will, ich möchte es nicht glauben, daß sie so tief in unser Leben oder in das Leben anderer greifen dürfen. Und trotzdem komme ich nicht los von dem Gedanken, zehn Jahre schon nicht, daß ich damals doch diesen Kienböck, diesen Hannes,aufrufen hätte sollen, als sein Arm plötzlich hochstieß und die Hand in der Luft herumwirbelte. ,Was ist denn los, mein Sohn!' Ich rief ihn aber nicht auf. Das geschah keineswegs aus irgendwelchen bedeutenden Erwägungen. Dieser Hannes, dreizehn, hochgewachsen und schlacksig, hatte mir nur zu oft schon Ungelegenheiten bereitet. Nicht,daß er etwa frech gewesen wäre,im Gegenteil, er war die Gutmütigkeit selber, die Ungelegenheiten entstanden bloß daraus, daß sein stürmischer Eifer ein Vielfaches größer war als seine Geisteskräfte. Wenn da einer Brasilien meldet, sobald von Kängu ruhs die Rede ist, wenn er in der Schlacht bei Lützen 1632 den Prinzen Eugen fallen läßt oder den Unter schied zwischen Adjektiv und Adverb selbst nach jahrelanger Geduld des Lehrers nicht begreift, ja, dann... So rief ich ihn eben in dieser Stunde von neun bis zehn nicht auf. Wie wäre es denn gewesen: die Ant wort des Hannes, zweifellos wieder unrichtig, wenn nicht blödsinnig, das minutenlang andauernde, höl lische Gelächter der Klasse, ein Riß in dem Ablauf der Stunde, für die ich ein wichtiges Kapitel sehr sorgfältig vorbereitet hatte. Den entstehenden Zeit verlust hätte ich zudem gerade an diesem Tage nicht brauchen können, weil ich pünktlich um zehn weg mußte,um an einer anderen Schule weiter zu unter richten. Ich weiß das noch, als wäre es eben erst gestern gewesen:Freitag,16. November,aber der Föhn hatte einen späten Septembertag daraus gemacht. Beim Verlassen des Schulhauses schlug mir ein Schwall warmer Luft entgegen,das sonst so altersmatte Gelb der Kirchenmauer blühte geradezu, die Berge schie nen herangezogen wie durch einen starken Feldste cher, silbergrau schimmernde Wände,tiefgrüne Fich tengruppen, Kammlinien, mit feinstem Stift in einen wolkenlosen Himmel gezogen. Auf dem Wege zur anderen Schule dachte ich an meine letzte Tour, sie hatte mich auf das Osterhörn geführt, den Berg mit dem seltsamen, unerklärbaren Namen. Aufstieg, Gipfelrast, Rückkehr, völlig allein erlebt, ich war glücklich gewesen, ohne jeden Hinterhalt aus Ver gangenem her, ohne den geringsten Anspruch an irgendwelche Zukunft. Die folgende Schulstunde und der weitere Schultag beanspruchten mich dann vollkommen. Gegen acht Uhr abends — meine Frau und ich saßen eben im Wohnzimmer — schrillte das Telephon. Der Postenkommandant der Gendarmerie rief an, ent schuldigte sich ob der Störung und wollte dann wis sen, ob der Schüler Mario Preinfalk am Nachmittag in der Schule gewesen sei. ,Sie sind doch sein Klas senvorstand',sagte er. Das war richtig, Mario Preinfalk besuchte die gleiche Klasse wie Hannes Kienböck und achtzehn andere Schüler. Ich führte die Klasse seit drei Jahren. Als ich bedauerte, die Frage des Kommandanten nicht beantworten zu können, ich hätte meine Stammschule bereits um zehn Uhr verlassen, und ihm riet, sich an das Kinderheim zu wenden, wo Mario wohne,erwiderte der Beamte,gerade die Vor steherin des Kinderheims habe seinen Anruf ver anlaßt: Sie sitze bei ihm und habe gemeldet, daß Mario wohl zum Nachmittagsunterricht weggegan gen, bis jetzt aber nicht zurückgekommen sei; die letzte Stunde habe er von drei bis vier gehabt, eine Turnstunde, der Sportlehrer wohne aber auswärts und sei telephonisch nicht zu erreichen. ,An wen sollte ich mich also wenden', sagte der Postenkom mandant,,der Klassenvorstand, das ist doch so eine Art Vertrauensperson für einen Schüler. Etwas Be sonderes ist Ihnen an diesem Mario nicht aufgefal len? In Ihrer Stunde da,von neun bis zehn?'. Nein! Mir war nichts aufgefallen, aber schon gar nichts. Blaß war Mario gewesen, wie er da neben Hannes gesessen hatte, durchscheinend, als hätte er überhaupt kein Blut in den Adern, so sah er jedoch immer aus, selbst nach einerti heißen Sommer. Das dunkle Haar und die schwarzen Augen ließen diese Blässe noch tiefer erscheinen, als reichte sie bis auf die Knochen hinein. ,Mario', hatte ich einmal gesagt zu ihm,,jetzt suche ich schon drei Tage und Nächte nach einem Schwarz, das dem deiner Augen ent spräche,ich finde keines. Eine Neumondnacht ist wie ein Ballsaal dagegen, so einer mit tausend Lichtern, verstehst du? Wo hast du dieses Schwarz nur her genommen?' Mario hatte mich eine Weile schwei gend angesehen, dann aber doch geantwortet:

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2