Oberösterreich, 25. Jahrgang, Heft 4, 1975

gewesen. Er hatte Angst, daß die Gerechtigkeit fürchterliche Folgen haben könnte. Michael Kohl haas in allen Ehren, anspornend ist sein Beispiel ge rade nicht. So wurde das Ereignis durch grimmiges Schweigen versteinert, verdrängt wurde es nicht. Der Lehrer liegt nicht weit von meiner Schwester begraben. Wenn die Mutter das Grab besucht,zeigt sie den Enkeln auch das seine.„Da liegt er",sagt sie mit unbewegtem Gesicht. Sie hat nichts vergessen, und der Ton ihrer Stimme zeigt: sie hat auch nichts verziehen. * * * Mein Bruder hatte in der Schule ein anderes Kreuz zu tragen. Er war gewiß kein Musterschüler, und wegen einer gelegentlichen Tracht Prügel hätte es auch kein Aufhebens gegeben. Immerhin war er in dem Alter, da Knaben in dieser Gegend bereits um sichtige und verwegene Fischdiebe sind und immer damit rechnen müssen, daß sie dabei auch einmal erwischt werden. Und was setzt es dabei ab? Natür lich vor allem kräftige Prügel. Auch wenn es zu Hause Schläge gab mit dem großen Kochlöffel,zeigte er stets genug Härte und Zähigkeit,um keine lamen tierende Klage laut werden zu lassen. Auch ein Na senbluten bei einer Balgerei brachte ihn keineswegs zum Weinen,denn eigentlich war er ganz schön aus gekocht. Aber von der Schule kam er oft ganz verstört nach Hause, und was das merkwürdigste war: er hatte sogar nasse Hosen an solchen Tagen wie ein Knirps aus der Kinder-Bewahranstalt. Es mußte also gerade zu schockartige Angst mit seinen Erlebnissen in der Schule verbunden gewesen sein. Der Lehrer hatte, wie man so sagte, seine nervösen Tage. Zu solchen Zeiten strich er herum und die Kinder bemerkten .mit zunehmendem Grauen, wie er weiße Nasenflügel bekam, als wären sie erfroren. Kamen dann dumme oder falsche Antworten auf seine Fragen,begann erim Klassenzimmer rasch aufund abzugehen und drohend kam seine Warnung: „Jetzt reißt mir bald der Geduldsfaden!" Dann hing es nur noch von völlig unkontrollierbaren Zufällig keiten ab, wann die Entladung kam,nämlich mit den Worten:„Jetzt ist er mir zerrissen!" Mit diesem Ruf stürzte er sich auf den ersten besten, der eine Frage nicht richtig beantwortet hatte, und schlug mit einem Stock zu, diesen zuweilen sogar als Bihänder benut zend,auf Rücken,Kopf und Hände,und es war nicht selten, daß er einen Stock dabei entzweischlug. Er japste nach Luft, kam ganz außer Atem und fiel nach dieser anstrengenden Betätigung völlig er schöpft in seinen Sessel. Mein Bruder hat mir später erzählt, es sei nicht so sehr der Schmerz über die Schläge gewesen, der ihm so zugesetzt und Angst und Schrecken ausgelöst habe, sondern die Zeit vorher, die „zwischen dem Zitieren des Geduldfadens und dem Zerreißen des selben" gelegen war, wie er seine Zeugenschaft for mulierte. Das sei eine Gewitterschwüle gewesen, vor der es kein Ausweichen gab. Nie sei es vorgekom men, daß nach einer solchen Ankündigung der Ge duldsfaden etwa einmal nicht gerissen wäre. Es sei jedesmal wie bei einer unheimlichen Naturkatastro phe gewesen, die Unentrinnbarkeit habe alles förm lich gelähmt. Ich habe später Kinder beim Spiel beobachtet und gehört, wie die größeren den kleineren, wehrlosen, gedroht haben: „Jetzt reißt mir bald der Gedulds faden!" Ich habe auch gesehen, wie sich im Krieg Urlauber vor dem Einrücken in einem Gasthaus zusammen rotteten, in dem der Lehrer, der inzwischen pensio niert war, ruhig an seinem Tisch saß. Es dauerte meist nicht lange,bis einer der Soldaten lautzu rufen begann: „Jetzt reißt mir bald der Geduldsfaden!" Der Lehrer verschwand stets fluchtartig bei einer anderen Tür hinaus, damit er den Tisch seiner ehe maligen Schüler nicht passieren mußte. Der Lehrer ist später in eine andere Gemeinde gezo gen. Als er schon im hohen Alter stand, habe ich über ihn gehört, daß man ihn oft vor einem Besuch abschirmen und förmlich verbergen habe müssen, wegen seines kindischen Benehmens, weil er nämlich häufig und ohne recht ersichtlichen Grund weinte. * * * Meine Eltern, verärgert und gekränkt über die Schul erfahrungen meines Bruders, schickten mich auf eine „feine"Schule. Aber auch die hatte,bei aller Korrekt keit, ihre Tücken. Da gab es einen Schüler namens Held. Was für eine Fundgrube für allerleiSchulwitze! Wenn etwa zu St. Nikolaus der Krampus kam,stand natürlich der Schüler, der dazu noch dicke Brillen trug, im Mittelpunkt. „Du bist mir so ein Held", sagte St. Nikolaus tadelnd, und der Krampus schlug zu. Der Schüler hatte manchmal eine merkwürdig bockbeinige Art. Da standen in großen Buchstaben

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