Oberösterreich, 25. Jahrgang, Heft 4, 1975

Literaturbeilage der Kulturzeitschrift Oberösterreich Jahrgang 1975 Man wird in jenem Grade verwandt Franz Kain Der Geschichtenschreiber soll Bitternis und Küm mernisse früher Tage einbauen und einbetten in den großen Strom des Lebens, als kämen die Ereignisse von Ewigkeit her. Das alles ist wohlbekannt und hat seine Ordnung. Aber es gibt Blöcke der Erinnerung, die sich diesem Verfahren durch ihre unförmige Ge stalt, durch ihre vielen Ecken und Kanten hartnäckig widersetzen. Man müßte diese Trümmer zerschlagen und neu zusammensetzen. Vorher jedoch muß man einmal ihre Umrisse abtasten und vor allem: sie ein mal von der eigenen Brust wälzen, um zu versuchen, aus einiger Entfernung ihr Wesen zu erkennen. Dann erst werden solche Blöcke Bausteine, vielleicht verwendbar, wenn auch nicht für grazile Türme, möglicherweise aber für die klobigen Denkmäler der Wildbachverbauung. * * * Wenn wir meine Mutter mit ihren 87 Jahren auf ihre Gedächtniskraft hin prüfen wollen, dann fragen wir sie nach den geheimnisvollen Worten, die wir uns alle nicht merken können. Ohne eine Sekunde nachzudenken, sagt sie dann — und wenn die Enkel und Urenkel dabei sind, lächelt sie spöttisch dazu —: „Man wird in jenem Grade verwandt,als die Person, durch welche die Schwägerschaft geschieht, mit der anderen verwandtist." Ich muß gestehen, daß ich niemals den Sinn dieses Grundsatzes verstanden habe, soweit es den Wort laut selbst betrifft, obwohl ich natürlich weiß, daß es sich um die Feststellung eines nicht „blutsmäßigen" Verwandtschaftsgrades handelt. Der Satz ist mir ganz einfach zu präzise, wodurch er nichtausschwingt und dunkel bleibt. Was für ein Erlebnis muß also mit einem solchen Satz verbunden sein, daß eine Frau ihn dreiviertel Jahr hundert über Arbeit, Not, zwei Weltkriege und spärliches Glück hinweg eisern im Gedächtnis be wahrt? Er muß für sie ein Pfahl im Fleisch der Erfah rung sein. Er ist es. Der Satz war Prüfungsfrage im weltlichen Unter richt eines Katecheten, und meine Mutter war die einzige der ganzen Klasse, die ihn gewußt hat. Aber sie wurde nicht danach gefragt. „Wie er schon zwei vergeblich gefragt hat und ich gemerkt hab', daß kein einziger was weiß, bin ich in der Bank aufgestanden und hab' die Hand hoch emporgestreckt. Aber er hat mich nicht drangenommen,er hat den Satz selbst gesagt, nur damit ich nicht zeigen kann, daß ich was gelernt habe. Da hätt' er mich am Ende gar noch loben müssen, und das wollte der auf keinen Fall." Der Großvater hat natürlich über diese Zurück setzung kräftig geschimpft, denn sie war mit einer ungünstigen Note verbunden und er hat wohl, wie es in solchen zugespitzten Fällen zu geschehen pflegte, inbrünstig ausgerufen, daß nun bald die Herrenjagd kommen müsse. Vielleicht hätte eine Eingabe bei der Schulbehörde, wenigstens formal, sogar Erfolg gehabt, denn ein Unrecht war auch um 1900 nicht gänzlich unaustilgbar. Zweckmäßig schien eine Be schwerde jedoch nicht. Der Großvater war nämlich in der alten Kuranstalt „Badewaschl". Übertreibend und vergröbernd könnte man heute sagen, er habe die Erzherzoginnen gebadet. Ein ganz kleiner öffent lich Bediensteter, der Beschwerde gegen einen sehr mächtigen Zweig des Erziehungswesens erhebt um die Jahrhundertwende, das wäre wohl ein Wagnis

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