OÖ. Heimatblätter 1949, 3. Jahrgang, Heft 2

Oberösterreichische Heimatblätter Herausgegeben vom Institut für Landeskunde am o.-ö. Landesmuseum in Linz durch Dr. Franz Pfeffer April-Juni 1949 Jahrgang 3 Hest 2 Inhalt Seite Dr. Alfred Hoffmann: Aufgaben der geschichtlichen Landesforschung in Oberösterreich Heinrich Decker: Die Alterswerke Meinrad Guggenbichlers. Zum 300. Geburtstage des Künstlers.... . .... Univ.-Prof. DDr. Alfred Orel: Anton Bruckners Nachlaß...... J. Unfried: Franz Xaver Müller .. . . . . . . . .. Dr. Hubert Razinger: Der Tragweiner Faust. Zur Uraufführung des Werkes im Puppenspieltheater Franz Pühringers im Linzer Nathaus am 2. April 1949 . . Anton von Spaun: Lebendige Worte an die Heimat. Zusammengestellt von Ott¬ Jungmair Bausteine zur Heimatkunde 155 Dr. F. Juraschek: Das Werkmaß der karolingischen Martinskirche in Linz Dr. F. Pfeffer: Die „Ochsenstraße" bei Linz 162 Dipl. Kfm. Engelbert Eßletzbichler: Das einstige Ennstor in Steyr und sein Wappenschmuck .. . . . . . Dr. Gustav Brachmann: Trog-Dexler Herbert Jandaurek: Der Mitterweg.. ... F. Brosch: Flurkundliche Bemerkungen zu den Mitterwegen.... F. Rosenauer: „Von Affn und Strauben“ Lebensbilder Dr. Eduard Kriechbaum: Schuldirektor i. R. Josef Schaller.. Schrifttum. .. . . . Verzeichnis der oberösterreichischen Neuerscheinungen.. 186 .. Dr. Eduard Straßmayr: Heimatkundliches Schrifttum über Oberösterreich 1948 Jährlich 4 Heste Zuschriften für die Schriftleitung (Beiträge, Besprechungsstücke) an Dr. Franz Pfeffer, Linz a. D., Museumstraße 14 Zuschriften für die Verwaltung (Bezug) an die Buchdruckerei des Amtes der o.-ö. Landes¬ regierung, Linz a. D., Klosterstraße 7 Verleger und Eigentümer: Verlag des Amtes der o.-ö. Landesregierung, Linz a. D., Klosterstr. 7 Herausgeber und Schristleiter: Dr. Franz Pfeffer, Linz a. D., Museumstraße 14 Druckstöcke: Klischeeanstalt Franz Krammer, Linz a. D., Klammstraße 3 Druck: Buchdruckerei des Amtes der o.-ö. Landesregierung, Linz a. D., Klosterstraße 7

Oberösterreichische Heimawblante Heft 2 April-Juni 1949 Jahrgang 3 Aufgaben der geschichtlichen Landesforschung in Oberösterreich Von Dr. Alfred Hoffmann (Linz). Unter den österreichischen Ländern tritt Oberösterreich nicht bloß in der Vielgestaltigkeit seiner Natur und Landschaft hervor, auch in der Geschichte erweist es sich als ein Gebiet des Überganges mit mannig¬ fachen Überschneidungen und dadurch gegebener bunter Gemischtlage sowie zahl¬ reichen eigentümlichen Formen geschichtlichen Lebens. Oberösterreich besitzt zwar in dem Städteviereck von Wels, Linz, Steyr und Enns mit seinem bis zu den Gebirgskämmen der Alpen reichenden Hinter¬ land — dem alten Traungau — einen Naum von zentraler Gestal¬ kungskraft, doch versagte es ihm die Auswirkung anderer politischer Strö mungen, die sich gerade hier kreuzten, zum Mittelpunkte der Ausbildung einer größeren staatlichen Einheit zu werden. Zweimal können wir hier das Abwan¬ dern von Residenzen beobachten: in die Nachfolge des alten Lorch teilen sich Regensburg-Passau im Westen und Wien im Osten, während im Süden Graz der Stadt Steyr den Vorortsrang für die ursprünglich nach ihr benannte Mark abnimmt. Erst der im Jahre 1192 erfolgte Zusammenschluß des Herzogtums Österreich mit der Steiermark brachte die endgiltige Entscheidung für die staatliche Ent¬ wicklung des Landes ob der Enns, das als eigenes landesfürstliches Verwal tungsgebiet erst seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts in Erscheinung tritt und in dieser Eigenschaft an Altersrang von den anderen österreichischen „Erbländern“ Niederösterreich, Steiermark, Kärnten und Tirol übertroffen wird. Deutlicher als anderswo haben wir daher hier die Gelegenheit, den Werde¬ gang und zugleich den Rechtsinhalt eines spätmittelalterlichen Territoriums zu erforschen, zumal hier die „Landschaft“ als geschicht¬ liche Zelle und Einheit eine bedeutsamere Rolle spielt als in anderen Ländern, wo mehr die persönliche Macht eines Herrschergeschlechtes sich entwickeln konnte. Oberösterreich wird wahrscheinlich über die uralte Streitfrage der Staats¬ bildung Ssterreichs aus dem Baiernland heraus die ent¬ scheidenden Aufschlüsse geben. Vermochte doch der aus der babenbergischen Ost¬

Oberösterreichische Heimatblätter mark erwachsende Staat dem alten Stammesherzogtume Baiern Stück um Stück auf dem Boden unseres Landes abzuringen, ein Kampf, der erst vor knapp 120 Jahren zum Stillstand kam. Das Problem der alten geschichtlichen Landesgrenzen kann hier an der wichtigen Stammesscheide zwischen Öster¬ reich und Baiern an der Innviertel-Hausruck-Grenze mit besonderer Aussicht auf grundlegende Erkenntnisse verfolgt werden, während die Ennsgrenze auf der anderen Seite ebenfalls wichtige Probleme in sich birgt. Nicht bloß die Frage Baiern-Österreich kann durch die oberösterreichische Landesforschung einen wichtigen Beitrag erhalten, sondern auch jene des Ver¬ hältnisses Österreich-Steiermark, die sich ja, wie bereits erwähnt, nach der heute in Oberösterreich liegenden Stadt Steyr nennt und den Ausgangs¬ punkt des Geschlechtes der steirischen Markgrafen und damit auch der Territorial¬ bildung Steiermarks bildete. Die Geschichte der späteren Herrschaft Steyr wird uns die Schlüssel¬ stellung, welche die großen und alten „Herrschaften“ für die Ausbildung der Territorien und der landesfürstlichen Macht einnahmen, erkennen lassen. Unser Land weist noch eine Reihe anderer solcher Einheiten auf, die durch ihre noch lang erhaltene verwaltungsmäßige und rechtliche Sonderstellung einen Einblick in den Werdegang von „Ländern" und Herzogtümern zu geben vermögen; ich nenne hier Freistadt und Wachsenberg. Das Salzkammergut und das Schaunbergerland aber bergen jedes wieder eine Reihe eigener Probleme für die „Landes-Geschichte“ im engsten Sinne. War das eine, wie schon der Name besagt, lange ein Reservat des Landesfürsten, das dem Lande ob der Enns nur lose angehörte, so können wir beim Schaunbergerland das umgekehrte Bestreben wahrnehmen, einem nach Reichsunmittelbarkeit strebenden Geschlechte Zug um Zug seine Hoheitsrechte abzunehmen, um sein Gebiet schließlich vollkommen dem Herzogtum einzugliedern. Ein weiteres geschichtliches Problem von größtem Interesse ist schließlich eben das Verhältnis des Landes Oberösterreich zum Herzog¬ tum Österreich; bildete doch das Land ob der Enns mit jenem unter der Enns ein einziges Herzogtum. Hier gilt es den Begriff des „Landes' zum Unterschied oder im Gegensatze zu dem des „Fürstentums“ herauszuarbeiten. Man wird vor allem darauf achten müssen, ob sich beim Lande ob der Enns die Entwicklung in der Weise vollzog, daß zuerst bloß eine vom Landesfürsten mehr oder minder künstlich geschaffene Verwaltungseinheit gebildet wurde, die erst allmählich sich im Bewußtsein der Landesbewohner, insbesonders aber der „Stände“, durchsetzte, oder ob vom Anfange an auch von Seite der Bewohner aus eine verwaltungsmäßige Sonderstellung gegenüber dem alten Kernlande unter der Enns gefordert wurde. Es gilt also, den mittelalterlichen Brauch eines territorialen „Anschlusses“ zu erforschen. Damit haben wir eine andere wichtige Seite des mittelalterlichen Staates, der ja grundsätzlich bis 1848 herauf bestand, berührt, den Dualismus 98

Hoffmann: Aufgaben der geschichtlichen Landesforschung in Oberösterreich zwischen Landesfürsten und Ständen. Wenn es auch nicht die Aufgabe unserer Landesgeschichte sein kann, diese weit über den mit den Landes¬ grenzen uns gezogenen Nahmen hinausgehende Frage in allen ihren Bereichen zu klären, so täte es doch bitter not, wenigstens einmal festzustellen, wer eigent¬ lich in unserem Lande als Landstand galt. Erst in zweiter Linie tritt das mehr politische Motiv der Absonderung der Stände ob der Enns von jenen des Landes unter der Enns samt allen damit verbundenen Einzelheiten wie der Geschichte der Erbämter usw. hervor. Wir müssen uns überhaupt darüber klar sein, daß die Lenkung der Geschicke eines Landes sowohl in politischer als auch kultureller und wirtschaftlicher Hin¬ sicht Jahrhunderte hindurch einer zahlenmäßig äußerst kleinen Oberschichte, dem Adel, anvertraut war. Sosehr nun dieser Adel selbst das Wissen um seine familienmäßigen Verbindungen in Form der Genealogie, der reinen Abstammungs¬ kunde, gepflegt hat, so wenig kennen wir die eigentliche Sozialgeschichte des Adels. Freilich würde hier eine Erörterung der grundsätzlichen Fragen weit über den Problemkreis der Landesgeschichte hinausreichen; was in deren Nahmen zunächst einmal zu erforschen wäre, das sind die Hintergründe und praktische Aus¬ wirkung der Teilung des Adels in die Oberschichte der Landherren und die niedere Gruppe der Ritter. Außer dem jeweiligen zahlenmäßigen Verhältnisse wird uns vor allem der in späteren Jahrhunderten genauer verfolgbare Aufstieg von der einen in die andere Gruppe interessieren. Ebenso fruchtbar wäre es, den Aufstieg bürgerlicher, ja sogar bäuerlicher Personen in den Ritterstand wie überhaupt die innere Zusammensetzung der bunten Schichte des Kleinadels und die von ihm innegehabten sozialen und wirtschaftlichen Stellungen näher ins Auge zu fassen. Jedenfalls scheint für viele von ihnen die Verwaltung eines landesfürstlichen Amtes, vorzüglich, wenn es sich um Finanz¬ und Wirtschaftsämter handelt, den Ausgangspunkt ihres sozialen Emporkommens gebildet zu haben, ebenso wie umgekehrt bei schon vorhandenem Reichtum die den Landesfürsten gewährten Darlehen nicht ohne Einfluß auf den Einsatz in wichtigen politischen Posten waren. Die Geschichte der Stände darf schließlich nicht bloß von ihren politischen Funktionen her betrachtet werden, sie wurzelt nicht zuletzt in der starken Bindung aller Rechte an Grund und Boden. Es wird aufzuklären sein, wie die Begriffe Herrschaft, Grundherrschaft und Land¬ standschaft zusammenhängen. Eine der ganz wesentlichen Arbeiten wird überhaupt darin bestehen, die Herrschaften, die die Zelle des mittelalterlichen Staatslebens bildeten, in allen ihren Bereichen gründlich zu untersuchen. Dazu gehört zunächst die rein räumliche, kartographische Erfassung der Verteilung des Landesbodens auf die einzelnen Herrschaften, die Bearbeitung einer Herrschaftskarte des Landes ob der Enns auf Grund des franziszeischen Katasters. Zwar vermag uns der Kataster bloß den Zustand für eine sehr späte Zeit, etwa 20 Jahre vor der Auflösung der alten Herrschaftsverfassung im Jahre 1848, wiederzugeben; es wird jedoch dann

Oberösterreichische Heimatblätter durch eingehendere Untersuchung der einzelnen Herrschaften, insbesonders der größeren, möglich sein, zu den „Ur“-Herrschaften zurückzugelangen und damit überhaupt zu den Keimzellen unserer Besiedlung zurückzustoßen. Der Besiedlungsvorgang in allen seinen Zweigen muß überhaupt im Mittelpunkte der landesgeschichtlichen Forschung stehen. Man wird versuchen müssen, der bisher fast allein gehandhabten, mehr von der Sprachgeschichte aus¬ gehenden Ortsnamenforschung noch andere Methoden, die mit dem Besiedlungs¬ vorgange selbst enger zusammenhängen, anzugliedern. Es ist zu erwarten, daß wir bei der Herstellung der Herrschaftskarte und der Rekonstruktion der Urherr¬ schaften auch einen Einblick in den räumlichen Vorgang der Siedlungen bekommen; es wird uns zumindest in einzelnen Fällen gelingen, die Siedlungszellen festzustellen, von denen die Rodung ihren Ausgang und Fortschritt nahm. diesem Zusammenhange wird die Frage der unteren Einheiten der Herrschaften, der Amter, zu untersuchen sein; die Bedeutung der Amter für die Herrschafts-, Siedlungs-, Wirtschafts- und Rechtsgeschichte ist noch ungeklärt. Besonderes Augenmerk wird man dem Verhältnis zwischen den herrschaft¬ lichen Amtern und den bäuerlichen Wirtschaftsgemeinden (Mark¬ genossenschaften), zuwenden müssen. Handelt es sich doch hier um die grundlegende Erkenntnis, ob für die Besiedlung eine an die Herrschaften gebundene und von ihnen ins Leben gerufene Organisation maßgebend war oder ob es tatsächlich alte „freie“ Siedlergemeinden mit genossenschaftlichen autonomen Rechten gegeben hat. Wir haben damit einen weiteren Fragenkreis angeschnitten, nämlich das Problem der Gemeindebildung im Mittelalter und den Einfluß des ge¬ nossenschaftlichen Prinzips auf die Gestaltung rechtlicher und wirtschaftlicher Lebensformen. Vor allem interessiert uns hier der Aufstieg rein bäuerlich-wirt¬ schaftlicher Gemeinden zu Genossenschaftsbildungen höheren Grades, denen auch rechtliche und politische Funktionen zukommen, können wir doch mit ziemlicher Sicherheit behaupten, daß zumindest die bürgerlichen Siedlungen minderen Rechtes, die „Aigen“ und auch die „Märkte“ in ihrer genossenschaft¬ lichen Organisation mit rein bäuerlichen Wirtschaftsgemeinden weitgehende Ähn¬ lichkeiten aufweisen, ja wahrscheinlich sogar in ihnen wurzeln werden. Während man bisher allgemein die Entstehung und Entwicklung der bürger¬ lichen Siedlungen als Gemeinden eigenen Rechtes vom Einflusse des öffentlichen Rechtes und deren landesherrlichen Privilegien her abgeleitet hat, wäre bei den kleinen bürgerlichen Gemeinwesen, den Märkten, der bisher noch nicht beschrittene Weg-einzuschlagen, ihre Bedeutung und Aufgabe innerhalb des grundherrlichen Siedlungs- und Wirtschaftsverbandes, zu untersuchen. Eine vergleichende Betrachtung der Rechtsgeschichte unserer vielen kleinen Märkte, Aigen und Freigerichte wird uns voraussichtlich auch noch wichtige Aufschlüsse über die alten Kolonistenrechte und Freiheiten geben, die sich hier in den höher organisierten Siedlungen besser erhalten konnten als in den rein bäuerlichen Siedlungen. 100

Hoffmann: Aufgaben der geschichtlichen Landesforschung in Oberösterreich Weiterhin wird zu untersuchen sein, ob nicht die Entstehung und Ent¬ wicklung des Bürgerstandes doch auch letzten Endes auf alte Kolonisten¬ freiheiten zurückgeht, mit dem Unterschiede allerdings, daß hier die Staatsgewalt (Königtum, Landesfürst) in bewußtem Gegensatze zu den Herrschaften Freizonen von den alles überwuchernden grundherrlichen Bindungen schaffen wollte. Verfehlt wäre es jedenfalls, wozu freilich die Privilegienpolitik verleitet, anzunehmen, daß die bürgerlichen Siedlungen als bloße Individuen für sich allein entstanden; es scheint vielmehr, daß die bürgerlichen Siedlungen höheren Rechts, die Städte, in der Hauptsache als Knotenpunkte an die von alters her für den freien Handelsdurchzug bestimmten öffentlich-rechtlichen Straßen, gesetzt wurden. Die noch ganz im Dunkeln liegende Straßenforschung und die Ver¬ kehrsgeschichte wird nicht bloß für die allgemeinen Siedlungsvorgänge, sondern auch für die Städte- und Marktgeschichte grundlegende Erkenntnisse bieten; Hand in Hand damit wäre der Geschichte der Mauten und des Mautwesens, welches hier eine Schlüsselstellung einnimmt, eine eingehende Untersuchung zu widmen. Wenig bekannt ist uns trotz aller Städteforschung (und zwar deshalb, weil diese immer nur den einzelnen Ort im Auge hatte) über die Funktionen des Bürgertums im mittelalterlichen Staat, insbesonders auch in wirtschaftlicher Hinsicht; das gilt nicht bloß für die Geschichte des Handels, der ureigenen Domäne des Bürgertums, sondern insbesonders auch für die allgemeine Ge¬ werbegeschichte, die dringend einer über zünftlerische Details hinausgehen¬ den Erforschung bedürfte. Die Aufteilung des mittelalterlichen Wirtschafts¬ lebens zwischen bäuerlich-grundherrschaftlichem Ein¬ flusse und dem städtisch-bürgerlichen Machtbereiche, die Wandlungen, die sich hier im Laufe der Jahrhunderte vollzogen haben, das alles sind Fragen, die noch der Lösung harren; als Beispiel sei hier nur angeführt, daß man den Eindruck hat, daß sich mit der Entwicklung des städtischen Wesens die Gewerbe aus dem grundherrschaftlichen Verbande losgelöst haben und in der Stadt sich zu qualifizierten Spezialbetrieben entwickeln konnten. Seit dem späten Mittelalter und hauptsächlich dem Beginne der Neuzeit tritt eine umgekehrte Bewegung ein: die Gewerbe wandern von den Städten wieder auf das Land, um sich hier unter dem Schutze der Grundherrschaften, vielfach zum Schaden der Städte, auszubreiten. Mit diesen Strukturwandlungen im Wirtschaftsleben sind auch sehr interessante und bisher unerforschte Veränderungen im soziologischen Aufbaue der städtischen Bevölkerung verbunden; in der Zeit der ersten Blüte des Städtewesens können wir beobachten, daß eine bestimmte Schichte, deren Namensträger wir in allen verschiedenen Städten antreffen, als Träger des Bürgertums erscheint. Da sie vielfach Titel und Ehrenrechte führt, die sonst dem Kleinadel zukommen, müssen wir annehmen, daß dieser zur Gründungs¬ 101

Oberösterreichische Heimatblätter zeit eine maßgebende Siedlerschichte gebildet hat. Den umgekehrten Vorgang treffen wir am Ausgange des 15., noch mehr seit dem 16. Jahrhundert, wo vielfach begüterte Bürgerfamilien, oft auch Nachkommen der städtischen Adels¬ familien, wiederum zurück auf das Land wandern, um dort als Herrschaftsbesitzer ein wirtschaftlich vorteilhafteres Leben zu führen; auch das Problem dieses Bürgeradels harrt einer näheren Untersuchung. Aber auch nach der anderen Seite hin gibt es Fälle, in denen bäuerliche Untertanen ihrer Herrschaft gegenüber eine Ausnahmsstellung einnehmen. Einige Gewerbe, die auf dem Lande sitzen, wie die Mühlen, insbesonders aber die größeren Eisenwerkstätten, nehmen eine rechtlich abgesonderte und gehobene Stellung ein; es wird zu erheben sein, inwieweit es sich hier um Reste alter Sonderfreiheiten (z. B. Asylrecht der Bäder) oder aber um landesherr¬ liche Regalrechte bzw. Versuche, diese gegenüber den alles überwuchernden grundherrschaftlichen Rechten durchzusetzen, handelt. Zur rein räumlichen Erfassung der alten Herrschaften durch die Herstellung einer Herrschaftskarte und die Verfolgung des Besiedlungsvorganges müssen wir daher, um überhaupt zu einer halbwegs anschaulichen und auch in sich richtigen Vorstellung vom Wesen der Herrschaften zu kommen, auch deren Rechts- und Wirtschaftsgeschichte in unser Programm einbeziehen. Wir besitzen bisher noch keine einzige Herrschaftsgeschichte, die uns mit dem inneren Aufbau in allen seinen Zweigen, insbesonders mit dem gesamten Komplex des Unter¬ tanenverbandes bekanntgemacht hätte. Wir müssen uns stets bewußt sein, daß wir es bei den Herrschaften weniger mit der Bewirtschaftung und obrigkeit¬ lichen Verwaltung flächenmäßig genau abgegrenzten und geschlossenen Ge¬ bietes als vielmehr mit einem oft örtlich sehr zerstreuten Rechts- und Per¬ sonenverbande zu tun haben. Für die Erkenntnis der Rechtszustände und ihrer Wandlungen bildet jedoch in vieler Hinsicht die Erforschung der Wirtschaftsgeschichte der Herr¬ schaften eine Voraussetzung. Es wurde bisher noch nie untersucht, welche Arten von Einnahmen einer Herrschaft zukamen, wie hoch sich die Gesamtsumme belief und wie und für welche Zwecke die Einnahmen verwendet wurden. Erst wenn es uns gelungen ist, für eine Reihe von Herrschaften die Wirtschaftsbilanz aufzustellen, werden wir viele Maßnahmen in ihrer Zielrichtung oder Zwangs¬ läufigkeit kennen lernen und damit eine Basis gewinnen, auf der ein wirkliches Urteil über die Verhältnisse vor und nach den Bauernkriegen usw. gefällt werden kann. Auch hier müßte wieder als notwendige Ergänzung zur Untersuchung der Herrschafts-Wirtschaft auch eine solche über die bäuerlichen Wirtschaften, ihr Erträgnis und ihre Belastung treten, eine Arbeit, für die uns in den vielen Briefprotokollen ein mehr als reichhaltiges Material zur Verfügung steht. In diesem Zusammenhange wäre zu erwägen, ob nicht der Herstellung der Herrschafts-Gebietskarten auf Grund des franziszeischen Katasters eine auf den Schätzungsoperaten desselben Bestandes beruhende Wirtschaftskarte zur 102

Hoffmann: Aufgaben der geschichtlichen Landesforschung in Oberösterreich Seite treten könnte, die den damaligen Wirtschaftszustand nach Art moderner Wirtschaftskarten aufzuzeigen hätte. Zur richtigen Erkenntnis und Erklärung dieser mehr flächenhaften Wirtschaftsverteilung gehört aber unbedingt noch ein Eingehen in die Wirtschaftsgeschichte im engsten Sinne, d. h. die Geschichte der bäuerlichen Bewirtschaftung, sei es nun Feldbau, Wiesen- und Weidewirtschaft usw.; wir ge¬ langen damitt über die bloße Ertragsberechnung zur landwirtschaftlichen Kultur¬ technik und zur Agrargeschichte in allen ihren Zweigen mit den ver¬ schiedenen Kulturgattungen. Schon bei der Untersuchung der bäuerlichen Produktion werden wir allent¬ halben auf Erwerbsgebiete stoßen, die nicht mehr dem agrarischen Wirtschafts¬ leben im engeren Sinne angehören, sondern bereits als Gewerbe oder Haus¬ industrie zu werten sind. Was bisher unter dem Namen einer Gewerbe¬ geschichte erforscht wurde, war im wesentlichen bloß eine Geschichte der gewerblichen Organisationen, also Zunftgeschichte, und fast niemals wurde versucht, dem Herstellungszweige, der Gewerbetechnik, einige Aufmerksamkeit zu schenken. Auch die Geschichte der Handwerksorganisationen wird man von der bisher üblichen Beschränkung auf die Geschichte örtlicher Verbände loslösen müssen und dafür trachten, das gesamte Netz der über das Land ausgebreiteten Gewerbe zu erfassen, um schließlich zu einer Kartographie der Gewerbe zu gelangen; die Feststellung ihrer räumlichen Verteilung, der Anzahl und Dichte der Gewerbestätten wird uns erst einen richtigen Einblick in die Bedeutung, in Blüte und Verfall der einzelnen Zweige verschaffen können. Ist unser heimatliches Handwerk enge mit der Bodenbewirtschaftung ver¬ bunden, so stehen die Anfänge unserer industriellen Unternehmungen fast durchwegs im Zusammenhange mit planwirtschaftlichen Maßnahmen, die auf Anregungen von Seite des Staates her zurückgehen und daher weitgehend von seiner Unterstützung abhängen. Im Gegensatz zu der mehr kontinuierlichen Ent¬ wicklung des Handwerks erscheinen uns die älteren Industrieunternehmungen viel¬ fach als Experimente, die nach raschem Aufblühen meist einem eben so jähen Verfall unterlagen. Es wäre eine äußerst dankbare, aber nicht leichte Aufgabe, die Frühzeit unserer Industrie nicht von den Einzelunternehmungen, von denen sich übrigens nur selten archivalisches Material erhalten hat, ausgehend, sondern von Seite der Staatsförderung her zusammenfassend zu untersuchen. Große Schwierigkeiten bereitet uns die mengenmäßige Erfassung der von Gewerbe und Industrie hergestellten Waren, der Produktion, da von Seite der Erzeugungsstätten selbst darüber so gut wie keine Aufzeichnungen erhalten ge¬ blieben sind; nur aus den Verlassenschaftsinventaren können wir gelegentlich einen Einblick in die jeweils vorhandenen Warenlager gewinnen. Das Gleiche gilt von der Geschichte des Warenaustausches, des Handels. Die Untersuchung der städtischen Handelsprivilegien und der sich daran knüpfenden Akten über Handelsstreitigkeiten der rivalisierenden Orte gewährt uns sicherlich viele wertvolle Anhaltspunkte, gibt aber in Wirklichkeit bloß einen kleinen Aus¬ 103

Oberösterreichische Heimatblätter schnitt aus dem Handelsleben wieder. Notwendig erweist sich hier vor allem die zusammenfassende Betrachtung größerer Gebiete, denn von der Geschichte einer einzelnen Stadt aus gewinnen wir schwerlich den richtigen Einblick in das über das ganze Land verbreitete Netz der Handelsbeziehungen. Da sich Geschäftspapiere und Handelsbücher einzelner Kaufmannsfamilien für unseren Bereich bisher nicht vorgefunden haben, müssen auch hier die Verlassen¬ schaftsinventare mit ihren Angaben über Schulden und Gläubiger als Ersatz¬ quelle herangezogen werden. Auch von den Kontrollstellen des Handels, den Mauten, sind infolge des durchwegs üblichen Pachtsystems gerade jene Quellen, die uns am meisten interessieren würden, nämlich die Mauteinnahmeregister, welche die verzollten Waren im einzelnen und mengenmäßig angeben, fast nirgends erhalten geblieben. Aus den generellen Mautabrechnungen allein können wir bloß das finanzielle Erträgnis, gewöhnlich aber nicht die Warenarten und -mengen erschließen, wie auch die Auswirkungen der Mautbefreiungen weder hinsichtlich der Qualität noch Quantität ermittelt werden können. Es wäre jedoch verfehlt, wenn wir bei der Untersuchung der einzelnen Wirt¬ schaftszweige stehen blieben und diese für sich allein in ihrer geschichtlichen Ent¬ wicklung untersuchen würden. Das Wirtschaftsleben der Vergangenheit bildete genau so wie jenes der Gegenwart ein untrennbares Ganzes und wir müssen daher auch das Zusammenwirken der verschiedenen Wirt¬ schaftskräfte in unsere Untersuchungen einbeziehen. Besonders klar tritt dieses gegenseitige Abgestimmtsein dort zutage, wo eine ganze Landschaft auf einen vorwiegend wichtigen Erzeugungszweig abgestimmt ist, wie es vor allem beim Salzwesen und Eisenwesen der Fall war. So war unser Salzkammergut eine vollkommen in sich geschlossene „ökonomische Landschaft", die infolge Koppelung der wirtschaftlichen und öffentlich-rechtlichen Verwaltung unter einheitlicher Leitung als unmittelbar landesfürstlicher Kameralbesitz förmlich einen eigenen Wirtschaftsstaat innerhalb des Gefüges der altösterreichischen Länder bildete. Gerade diese den modernen Bestrebungen planwirtschaftlicher und sozialistischer Gestaltung des Staats- und Wirtschaftslebens in vieler Hinsicht sehr ähnlichen Versuche bedürften, von diesem Blickfelde aus gesehen, noch näherer Untersuchung. Ähnlich, aber weniger straff zusammengefaßt war das auf mehrere Länder verteilte Eisenwesen, in dem sich infolge starken Einflusses privaten Kapitals im Gegensatz zu dem rein staatskapitalistisch aufgebauten Salzkammer¬ gut keine solche geschlossene ökonomische Landschaft ausbilden konnte; immerhin macht sich auch hier ein starkes Eingreifen des Staates bemerkbar, vor allem im gesellschaftsmäßigen Aufbau der Finanzierung und des Absatzes. Hand in Hand damit geht die staatsobrigkeitliche Förderung der technischen Entwicklung, die hier frühzeitiger als anderswo eine wissenschaftliche Fundierung erfährt. Die günstige Quellenlage ergibt hier ein reiches Feld für technikgeschichtliche Arbeiten. Hat man die Geschichte der Erzeugung und des Handels trotz bedeutender Lücken immerhin schon aufgehellt, so ist jene des Verbrauchs so gut wie gar 104

Hoffmann: Aufgaben der geschichtlichen Landesforschung in Oberösterreich nicht untersucht; aus ihr würden wir die Geschichte der materiellen Kultur, der zivilisatorischen Lebensweise unserer Vorfahren erschließen können. Aus den überlieferten alten Rechnungsbüchern und Inventarien könnte man aber ein ganz neuartiges Bild über die Nahrung, Kleidung und den Hausrat vergangener Zeiten gewinnen; wir würden damit endlich über das bisher auf Museumsstücke be¬ schränkte antiquarische Interesse zur Erforschung der Lebensweise im allgemeinen vorstoßen. Die „Altertumskunde“ würde somit nicht mehr auf die Vor¬ geschichte und römische Geschichte beschränkt, sondern in eine bis zur Gegenwart reichende „Kultur“-Geschichte (hier im engeren Sinne zu verstehen) fort¬ geführt. Aufgabe der Volkskunde wird es dann sein, die Sinndeutung des beseelten Brauchtums — die wir auszuschalten haben — zu geben. In manchen alten Hausbüchern finden wir nicht bloß Kochrezepte, die uns Aufschlüsse über die Nahrungs- und Geschmacksgeschichte geben, sondern auch meist Anweisungen zur Herstellung von Medizinen; demselben Zwecke, nämlich der Gesundheit des Menschen, dienten auch die Heilkräuterbücher; beides sind Quellen, die bisher noch kaum eine Beachtung für die Geschichte der heimischen Medizin gefunden haben. Die bisherige Literatur beschränkt sich in der Haupt¬ sache auf die Geschichte der Epidemien, wie der Pest, Cholera usw.; aber auch hier wären die oft übertriebenen allgemeinen Angaben über die Verluste an Hand der örtlichen Sterbematriken noch nachzuprüfen, die freilich in solchen Katastrophenzeiten auch oft unzuverlässig sind. Dazu gehört auch die Geschichte des Bader- und Hebammenwesens, für die eine verhältnismäßig günstige schriftliche Überlieferung erhalten blieb. Beachtenswert wären auch die alten Heilbäder, die von der Bevölkerung außerordentlich geschätzt wurden und im ganzen Lande herum verstreut liegen; die oft anzutreffende Verbindung mit Wallfahrtsorten führt uns in das Grenzgebiet der religiösen Volks¬ kunde. Eine eigentümliche Mittelgruppe, in der sich soziale, sanitäre und religiöse Elemente miteinander verbinden, bilden die alten Spitäler, die mit unseren heutigen Heilanstalten nur sehr wenig Berührung haben. In der Hauptsache dienten die alten Spitäler für die Alters- und Armenversorgung; die wichtigste Gruppe bilden die Bürgerspitäler in den Städten und Märkten, denen am Lande die Herrschaftsspitäler für die bäuerlichen Untertanen gegenüberstanden. Die an wichtigen Land- oder Wasserstraßen liegenden alten Hospitäler, die Reisenden Verpflegung und Unterkunft gewährten, bilden schon einen Übergang zu den Gründungen der religiösen Orden. Die Ergänzung zur Vorsorge für das leibliche Wohl des Menschen, zur materiellen Kultur, bildet die Vorsorge für seine geistig - seelischen Bedürfnisse durch Religion und Bildung. Wenn wir uns mit der Geschichte der geistigen Kultur befassen, so treten uns in erster Linie die sozial-rechtlichen Einrichtungen gegenüber, denen die praktische Verwirklichung der geistigen Strebungen obliegt, hauptsächlich verkörpert durch Kirche und Schule. 105

Oberösterreichische Heimatblätter Während man früher die Ansicht vertrat, daß mit der germanisch-baierischen Besiedlung des Landes nach der Völkerwanderungszeit ein völliger Neubau auf allen Lebensgebieten Platz griff, haben die jüngsten Forschungen Zibermayrs gezeigt, daß auf dem Boden unseres Landes der Nachhall der 500 jährigen Römerherrschaft noch weit herauf reichte. Für die Gestaltung des kirchlich¬ religiösen Lebens erweist sich die gleicherweise in der Spätantike wie zur Zeit der frühen Christianisierung Baierns außerordentlich starke Bindung der kirchlichen Organisation an das System der Staats¬ verwaltung als ein Faktor von grundlegender Bedeutung. Von besonderer Wichtigkeit für unser Land ist die Schlüsselstellung, die das von der Spätantike bis in das frühe Mittelalter herüberreichende Bistum Lorch einnimmt, und zwar auch deshalb, weil sich das später gegründete baierische Bistum Passau als sein Rechtsnachfolger betrachtete; eine Untersuchung der bis zur Gründung des Linzer Bistums herauf reichenden Auswirkungen dieser Passauer Ansprüche und die Geschichte ihrer mit einer Kette von Urkundenfälschungen verbundenen Tradition wäre nicht bloß von großem Interesse für die Landes- und Bistumsgeschichte sondern würde uns zudem noch einen tiefen Einblick in die Art und Bedeutung der mittelalterlichen Geschichtsüberlieferung und damit einen bedeutsamen Zug im Geistesleben dieser Zeit verschaffen. Bei dem engen Zusammenspiel von staatlichem und kirchlichem Leben, wie es sich gerade in Österreich bis weit herauf in die Gegenwart immer wieder zeigt, mußte die zwiespältige Entwicklung, die sich seit dem hohen Mittel¬ alter zwischen der Gestaltung der staatlichen Verhältnisse im Gefolge der Aus¬ bildung des österreichischen Staates einerseits und dem Verbleiben im kirchlichen Verbande des eine eigene politische Einheit bildenden Fürstbistums Passau anderseits ergab, zwangsweise zur Ausbildung ganz besonderer Ver¬ hältnisse führen. Freilich würde eine Untersuchung der Auseinandersetzungen zwischen dem Bistum Passau und dem österreichischen Staat weit die Grenzen unserer Landesgeschichte überschreiten, da ja auch das Land unter der Enns in diese Diöcese einbezogen war, doch wäre es dankenswert, dem eigenen Offi¬ zialat, das für das Land ob der Enns eingerichtet wurde, nachzugehen. Selbstverständlich wäre auch die bisher noch nicht unternommene Darstellung der Entwicklung des Netzes der Kirchensprengel, nämlich der Dekanate und Pfarren, für unsere Landesgeschichte von großem Nutzen. Hier muß die Forschung sowohl von den einzelnen Pfarren und ihrer besonderen Entwicklung ausgehen, wie auch dem größeren Verbande ihre Beachtung schenken. Wirklich durchgearbeitet ist bisher nur die theresianisch-josefinische Regulierung, doch konnte die umfangreiche, von Dr. Ferihumer durchgeführte Untersuchung bisher leider noch nicht in Druck gelegt werden. Zu beachten wäre, ob und inwieweit diese kirchlichen Sprengel mit weltlichen Gebietseinheiten von Herr schaften, Landgerichten und dergleichen übereinstimmen, auf solche zurück¬ gehen oder umgekehrt deren Gestaltung beeinflußt haben. 106

Hoffmann: Aufgaben der geschichtlichen Landesforschung in Oberösterreich Oberösterreich kann stolz sein, in dem von Professor Eder verfaßten Buch über das Land ob der Enns vor der Glaubensspaltung ein Werk zu besitzen, in dem ein Querschnitt durch die Generation des kirchlichen Lebens um das Jahr 1500 in allen seinen Zweigen in einem bisher nirgends versuchten Umfang gelegt wurde. Zukünftigen Forschern obliegt die Aufgabe, die darin aufgezeigten Pro bleme in Einzelbearbeitungen nach vorne und rückwärts zu verfolgen. So sehr es für die Entfaltung des geistlichen Lebens von Nachteil war, daß hier kein eigener kirchlicher Mittelpunkt bestand, so zeichnet sich das Land ob der Enns doch auf der anderen Seite durch den Reichtum und die Bedeu¬ tung seiner klösterlichen Anlagen aus. Umso bedauerlicher ist es vom Standpunkte der Landesgeschichte, daß, ähnlich wie wir für die meisten un¬ serer größeren Städte und Märkte keine den neuzeitlichen Anforderungen ent¬ sprechenden Geschichtsdarstellungen besitzen, die geschichtliche Erforschung unseres heimatlichen Klosterlebens noch ganz unzureichend ist. Hier liegt noch ein weites und äußerst fruchtbares Feld sowohl für eine ins Einzelne gehende Kleinarbeit als auch weitspannende Zusammenschau unbebaut vor uns. Wer unsere alten Landklöster kennt, der weiß, daß es sich hier um Gemeinschaften handelt, deren Aufgabenkreis außerordentlich vielgestaltig ist; zur Zeit ihrer Gründung und noch weit bis in das 19. Jahrhundert herauf können wir ihre Tätigkeit in eine wirtschaftlich-politische, eine geistliche erzieherisch-humanistische und wie ich sie nennen möchte - gliedern. Sie sind bei uns unzweifelhaft die ältesten Pflegestätten für alle Zweige der Wissenschaften und haben bis weit herauf ins 19. Jahrhundert für unser Land in dieser Hinsicht eine beherrschende Stellung eingenommen; die Ge¬ schichte ihres Wissenschaftsbetriebes näher zu erforschen ist eine Aufgabe, die uns instandsetzen würde, die Einordnung unseres Landes in die großen geistigen Bewegungen des Abendlandes vorzunehmen. Seit der großen Zeitenwende um 1500 tritt im Gegensatz zu den meist anonym bleibenden geistigen Schöpfungen des Mittelalters die einzelne Persön¬ lichkeit mehr in den Vordergrund. Insbesonders die Reformationsbewegung ließ jetzt den Typus des weltlichen Gelehrten an adeligen oder bürgerlichen Lehranstalten mehr in den Mittelpunkt des literarisch - wissenschaftlichen Wirkens treten. Waren es im Mittelalter die geistlichen Orden, die innerhalb des ganzen abendländischen Kulturkreises vielfach die Richtung und die Probleme der geistigen Auseinandersetzung bestimmten, gewinnen nunmehr die verschieden¬ artigen höheren Schulen als Hochburgen bestimmter Lehren eine führende Stellung. Es wäre eine äußerst dankenswerte Aufgabe, an Hand der uns über¬ lieferten Matriken der Universitäten und anderen höheren Schulen einmal fest¬ zustellen, inwieweit Angehörige des Landes ob der Enns sich dort ausbildeten oder gar selbst als Lehrer tätig waren. Das Land ob der Enns besaß schließlich in der evangelischen Landschaftsschule in Linz, die als Lyceum bis in das 19. Jahrhundert fortlebte, und in der Kremsmünsterer Ritterakademie selbst zwei 107

Oberösterreichische Heimatblätter solcher höherer Lehranstalten; auch hier ist — mit Ausnahme von Kepler und einigen wenigen anderen — noch lange nicht die Wirksamkeit der an ihnen tätigen Lehrpersonen einerseits, ihr Schülerkreis anderseits erforscht. Die geistige Bildung war früher jedoch keine bloße Angelegenheit der Schule. Viel mehr als heute waren Familie und Haus, die privaten Sammlungen, seien es nun Bücher schätze in den Bibliotheken, seien es Gegenstände der Kunst oder der Natur, der Ausgangs- und Mittelpunkt alles kulturellen Lebens. Überhaupt — und das soll der Abschluß unserer Betrachtungen sein — bildet für jede Art von Geschichtsforschung und noch mehr Geschichtsschreibung der Mensch, als Einzelindividuum, als Persönlichkeit betrachtet, trotz der von uns hauptsächlich ins Auge gefaßten Zusammenschau des Wirkens der ver¬ schiedenen die Geschicke und Geschichte eines Landes ausmachenden Faktoren, doch noch immer den eigentlichen Mittelpunkt, das Endziel unserer Erkenntnis, ist doch der innerste Kern und höchste Sinn jeder Art von geschichtlicher Betrachtung eine vertiefte Selbsterkenntnis, eine Schau ins Wesen des Menschlichen überhaupt. Die höchste Kunst des Geschichtsschreibers erfordert daher die Biographie, die Lebensbeschreibung einer Persönlichkeit. Freilich sind hier die Schwierigkeiten schon im Auffinden der Quellen recht beträchtlich und noch mehr beim Zusammen¬ knüpfen all der oft unentwirrbar scheinenden Fäden, in die so ein Menschenleben, das einigermaßen aus dem alltäglichen Schicksal herausgetreten ist, hineinver¬ wickelt wurde. Mein Versuch, den Aufgabenkreis der geschichtlichen Landesforschung in Oberösterreich darzustellen, mußte sich darauf beschränken, aus dem unerschöpflichen Born des Lebens der Vergangenheit jene Probleme herauszuschöpfen, deren Lösung nicht bloß ein rein wissenschaftliches Bedürfnis ist, sondern uns auch irgendwie aus unserem eigenen Erlebnis der unmittelbaren Gegenwart heraus, die eine Zeit weltweiter Umgestaltungen genannt wer¬ den muß, besonders naheliegt. In einem Zeitalter größter geistiger und politischer Auseinandersetzungen und einer von allen Seiten auf uns einstürmenden Propaganda ist eine sauber erarbeitete Geschichtserkenntnis keine müßige Spielerei, sie gibt uns, wo uns alle anderen Waffen mangeln, einen wertvollen Beitrag zur geistigen Selbst¬ behauptung, ohne die wir die ungeheuren Schwierigkeiten niemals werden überwinden können. 108

Decker: Die Altarswer Meinrad Guggenbichlers D Die Alterswerke Meinrad Guggenbichlers Zum 300. Geburtstage des Künstlers Von Heinrich Decker (St. Konrad bei Gmunden) Das mit etwa dem 60. Lebensjahre einsetzende Alterswerk bedeutender Künstler stellt zumeist einen resignierten Abgesang ihres Schaffens dar, der aber eine Vertiefung zu metaphysischer Schau erfährt, die erst ganz reifen Menschen zufällt. Meist lassen sich Stil und Bedeutung des Altersschaffens aus dem vor herigen, im wesentlichen abgeschlossenen Lebenswerke des Künstlers fast restlos herleiten. Dagegen steht der Altersstil des „Bildhauers von Mondsee“ seinen vor herigen Werken gegenüber so selbständig und in so hoher entwicklungsgeschicht¬ licher Eigenbedeutung da, daß seine gesonderte Betrachtung nicht allein sinnvoll, sondern notwendig wird. Durch seine Alterslage und sein Können war Meinrad Guggenbichler dazu bestimmt, die Entwicklung der hochbarocken Plastik der östlichen Alpenländer in führender Stellung zu vollenden. Der in Maria Einsiedeln geborene und in den Südalpentälern der Schweiz und Oberitaliens zu einem virtuosen Bildschnitzer ge¬ schulte junge Künstler vereinigte schon in seinen ersten Werken die von italienischen Anregungen gespeiste städtische Kunsttradition Salzburgs, der Residenz des Pri¬ mus Germaniae, mit den bodenständigen Überlieferungen der im Innviertel seit dem Spätmittelalter blühenden Holzbildhauerkunst. Guggenbichlers Schaffen setzte in dem bedeutsamen Jahre 1675 ein, in welchem Salzburgs Kunst in Jakob Gerolts Hochaltar von Maria Plain und die Plastik des Innvietels in dem mäch tigen Doppelaltar Thomas Schwanthalers von St. Wolfgang dem Hochbarock die ersten ragenden Siegeszeichen errichtet und damit seiner Fortentwicklung den Grund gelegt hatten. 1679 besiegelte Guggenbichler durch seine Übersiedlung nach Mondsee seine Verbindung mit dem dort blühenden ältesten Benediktinerstifte des Landes ob der Enns, das forthin sein wesentlicher Auftraggeber wurde. Zugleich aber verband sich der rasch zu weitreichendem Ruhme aufsteigende junge Meister der Tradition des Kunstschaffens dieses Stiftes, das vermöge seiner geographischen Lage eine höchst bedeutsame selbständige Stellung zwischen den Kunstlandschaften Salzburgs, des damals noch bayrischen Innviertels und des Landes ob der Enns inne hatte und überdies noch im Sinne der mittelalterlichen kulturellen Autarkie der ein¬ zelnen Klöster dahin strebte, seine Kunst aus eigenem Geist und eigenen Mitteln zu gestalten. Die benediktinische Tradition, der schon Guggenbichlers Vater als Bildhauer in Einsiedeln verbunden gewesen war und der sich Meinrad in Mondsee erneut anschloß, schenkte seiner Kunst jenes Element weltoffener geistiger Erhebung, das einen wesentlichen Teil ihres Wertes ausmacht. 109

Oberösterreichische Heimatblätter In den Jahren 1679 —84 hatte Guggenbichler in der Gestaltenwelt von fünf bedeutenden Altarwerken für die Mondseer Stiftskirche in unversiegbarer Er¬ findungsgabe hymnisch beschwingte Musikalität im Gewande einer fast romantisch traumhaften Stimmung Form gegeben. — Den Stil seiner Mannesjahre ent¬ wickelte er 1684 —91 in den monumentalen Plastiken seiner Hochaltäre von Irrs¬ dorf und Michaelbeuern sowie in den Mondseer Kanzelplastiken zu einem viel¬ stimmigen großen Pathos, das von der Vereinigung geistiger Macht und leiblicher Größe der noch erdgebundenen Gestalten von Irrsdorf und dem mächtig in den Raum ausgreifenden Kanzelheiland von Mondsee sich zu dem ekstatischen Schwung seiner Plastiken in Michaelbeuern — den ersten Schwebefiguren des alpenländischen Barock — verklärte. In den Kriegs- und Notjahren um 1700 versiegte des Künstlers eigenhän¬ diges Schaffen. Auf dieser Strecke seines Lebens ist uns auch bezeichnender Weise sein Werk nur lückenhaft erhalten; dagegen gewann es seine entscheidende seelische Vertiefung an den bedeutenden Leistungen, die der Meister im Auftrage des Mond¬ seer Abtes bis 1706 für die Wallfahrtskirche von St. Wolfgang zu vollenden hatte. Diese Bildwerke durften und mußten vor den bedeutendsten Denkmälern alpenlän¬ discher Plastik — neben Michael Pachers Choraltar von 1471 —81 und Thomas Schwanthalers Doppelaltar von 1675/76 —zwar nicht maßstäblich, wohl aber geistig bestehen. In diesem befeuernden Wettbewerb mit der Vergangenheit er schlossen sich Guggenbichler die tiefsten Werte alpenländischer Bildhauertradition und sein eigenes Schaffen entfaltete sich zu schlichtem Ernst und einer seelischen Ausdrucksgewalt, die es allen barockzeitlichen Bindungen entrückt und ins Zeit lose erhebt. Schon an diesen Werken um 1706 begann Guggenbichler bzw. in dessen Auf¬ trag sein Faßmaler, die Farbe der kostbaren Meisterfassungen in einem anderen Sinne als Element des Ausdruckes anzuwenden, als dies der Meister selbst bis¬ her und die Künstler seiner Umgebung mit ihm getan hatten: War seit etwa 1660 die Fassung hochbarocker Bildwerke durchwegs auf den Gegensatz der lebensnahen Farben des menschlichen Körpers zu der mystisch leuchtenden Glanzvergoldung der Gewänder abgestellt gewesen, so begannen bereits Guggenbichlers Plastiken in St. Wolfgang in diesen Zweiklang bunte Farben einzubeziehen. Auf Gold- und Silberfolien wurden in transluziden Lasuren edelsteinhaft glänzende Farb¬ schattierungen aufgetragen, die keineswegs stofflicher Charakteristik dienen. Sie stellen vielmehr schon technisch, aber auch ihrer Wirkung nach eine Wieder¬ aufnahme jener kostbar abstrakten Fassungsweise dar, die der alpenländische Manierismus des späten 16. und des frühen 17. Jahrhunderts absichtsvoll ge¬ wählt hatte. Nach 1706 beginnt diese Farbgebung des Meisters Werke geradezu der Lebensnähe zu entrücken und zu märchenhafter Wirkung zu verzaubern. Hatte die hochbarocke Fassung eine sakrale Erhabenheit der Plastiken geschaffen, so bildete die gleißende Buntheit der neuen Farbgebung einen Bereich ahnungsvoller stim¬ 110

Decker: Die Altarswerke Meinrad Guggenbichlers mungsweckender Assoziationen, in die der Beschauer hineinstaunt, wie ein Kind in den Lichterglanz des Weihnachtsbaumes. Nicht mehr Ehrfurcht, sondern volkstüm¬ licher Zauber keimt auf. Diese an den St. Wolfganger Werken zuerst angedeutete neue farbige Er¬ scheinung begleitet und ergänzt einen sich anbahnenden neuen plastischen Stil des Meisters. Er erkauft die seelische Vertiefung, die fast mittelalterliche Schlichtheit seiner Werke mit der bewußten Abkehr von dröhnendem Pathos, leidenschaftlicher Bewegung, von räumlicher Vielfalt und jener echten Monumentalität, in welcher sich das hochbarocke Empfinden ausspricht. Sein neuer Stil bedingt mittlere For¬ mate, schafft intime Wirkungen, etwa jene bunte Zauberhöhle im Altarschrein von Kirchberg bei Eugendorf (1706/07), wo der hl. Ritter Georg vor einer Bergland¬ schaft den Drachen niedersticht, um die bebende Königstochter zu befreien. Wenn der Mondseer Meister dagegen in diesen Jahren zu monumentalen Aufgaben ver¬ pflichtet wird, wie vom Stifte Mattsee für den Hochaltar in Lochen (1709), lebt in größerer räumlicher Freiheit, aber strengerer Formenzucht das alte große Pathos seiner Mannesjahre wieder auf und nur die Sensitivität der leider neu gefaßten Bildwerke deutet seinen neuen Stilwillen an. Nach 1710 steht des Meisters Altersstil vollendet vor uns. Am sinnfälligsten vertreten ihn die unberührt erhaltenen köstlichen Plastiken an dem Altare der Wolfgangskapelle in St. Wolfgang (1713). Die Zöglinge des hl. Regensburger Bischofs, das Kaiserpaar Heinrich II. und Kunigunde, sind zu beiden Seiten des Altarblattes in tiefster Erregung dargestellt: Kunigunde schreitet hocherhobenen Hauptes, die Kleidersäume hebend, mit bloßen Füßen über glühende Pflugscharen, um im Gottesurteil ihre verdächtige eheliche Treue zu beweisen Von ihrem Blicke getroffen, steht der kaiserliche Gatte ihr gegenüber; von innerem Vorwurf und Neue ergriffen, sieht er in stiller Abbitte, leise ehrfurchtsvoll sich neigend, zu der Gerechtfertigten hinüber. Das Spiel der Gewänder betont die Affekte: In un¬ ruhigen Wellen kreisen die Säume schwingend um den Körper des Kaisers, wäh¬ rend sie sich in einfachen, nur leise rieselnden Faltenstegen um die Kaiserin legen. In diesem Bildwerke griff Guggenbichler über den geschichtlichen Abstand, der die Gattin des letzten Ottonen von seiner Zeit trennte, entschlossen hinweg: Er ließ Kunigunde nicht im hieratischen Kaiserinnenornate ihrer Zeit, in steifen byzan¬ tinischen Brokaten oder sizilianischen Seidenstoffen erscheinen, sondern stellte sie ganz im Einklange mit der naiven Phantasie des Volkes so dar, als wäre sie eine anmutige junge Bürgersfrau seiner Tage. Sie trägt das faltige Weißzeug und den bauschigen Rock, das reich verschnürte Mieder und den ländlichen Schmuck der Barockzeit, zeigt aber auch die vollkräftige Lieblichkeit seiner Zeitgenossinnen. Nur das Krönchen auf dem Haar deutet ihren Rang an. Die aufglitzernden Farben schaffen eine köstliche Entrücktheit und das Bild einer Märchenerscheinung, die wir weder als volkstümlich noch als historisierend allein, sondern als edel wirklichkeits¬ fern bezeichnen müssen. Die freie Leichtigkeit der Bewegungen steigert sich von diesen Hauptfiguren zu den begleitenden schwebenden und fliegenden Engeln und 111

Oberösterreichische Heimatblätter gaukelnden Engelköpfen dieses Altares; auch am Überbau der benachbarten „Zelle des hl. Wolfgang“ sind es Engelkinder, die in meisterlichen Flugdarstellungen diese Zelle mit Blumenketten kränzen, die Attribute des Heiligen vorweisen oder aufjubelnd das barocke „Sursum corda“ des Geistes verkörpern. Der gleiche Nachglanz weltzugewandten barocken Frohsinns spricht aus der nunmehr wieder in Salzburger Privatbesitz aufgetauchten Freifigurengruppe einer hl. Familie, die ursprünglich einer Kapelle in Zell am Moos angehörte; liebevoll hat der Meister in intimem Format Thomas Schwanthalers Bildwerke im linken Schrein seines Doppelaltars (1675/76) von St. Wolfgang zu einer lockeren Kom¬ position von zwingendem Reiz weitergebildet. Der rundlich gestaltete Heiland¬ knabe schreitet inmitten seines Elternpaares energisch aus, so daß sein Schwung die feingliedrigen Gestalten der beiden Erwachsenen in schlenderndem Wander¬ schritte mit sich zieht. Der liebenswerte Humor, der Guggenbichlers Werke so volkstümlich macht, äußert sich in diesem um 1710 entstandenen Spätwerke mit entwaffnender Unbefangenheit. Die Grundstimmung der Alterswerke Guggenbichlers ist aber ernste Versen¬ kung, die sich zur Schau ins Jenseitige erhebt. Dieses Thema wird an den lebens¬ großen Freiplastiken in Valentinshaft (1711?) trotz ihrer Beschädigungen dadurch besonders anschaulich, daß der Schmerzensmann eine Übersetzung der berühmten Statue in St. Wolfgang (1706) in den Altersstil ihres Meisters ist, während die zugeordnete Schmerzhafte Muttergottes deutlich die geschlossenen Formen der Trauernden des Kreuzaltares in St. Wolfgang (1706) weiterbildet. Der Vergleich der beiden Werkpaare zeigt den innerhalb eines Lustrums vollzogenen Wandel zum ausgesprochenen Altersstil: Jede Schaustellung des Leids, jede sichtbare Be¬ ziehung zum Beschauer wird vermieden. Die Körper werden hager, ihre Haltung versunken, die Gesten sparsam, aber adeliger und ausdrucksvoller. Der schönheit¬ liche Glanz, der an den Jugendwerken Guggenbichlers hinreißt, schwindet. Maria ist nun eine verhärmte Leidträgerin aus dem Volke; wie ausdrucksvoll wirkt in¬ mitten des Gewandes die Vereinigung ihrer gerungenen Hände! Auch im Hei¬ landshaupte hat sich der Ausdruck zu letzter Tiefe gesammelt. 1712 hat Guggenbichler unter wesentlicher Mithilfe seiner Werkstatt den Haupt- und die beiden Seitenaltäre in Oberhofen vollendet; die an eigenhändigen Spätwerken sichtbaren Stilmerkmale erscheinen hier verwässert. Über diesen Durch¬ schnitt erheben sich jedoch die exstatisch bewegten Kriegergestalten der beiden „Wetterherren“, der Schreinwächter des Hochaltares, und die ausgezeichneten Pilgerfiguren, die Heiligen Sigismund und Rochus, am gut beleuchteten linken Seitenaltare. Die feingliedrigen Gestalten erreichen eine Leichtigkeit der Be¬ wegung, die jeden Ausdruck mit einem Mindestmaß an Mitteln bildet. Dieses Kennzeichen gilt besonders für die schlanken Apostelstatuetten am Kelche der Kanzel. Während sich ähnliche Kleinbildwerke an der Mondseer Kanzel (1684) in leidenschaftlichem Ringen und in Lochen (1709?) noch großartig pathetisch ent¬ falten, wirkt hier die Form selbstverständlich, schlicht und tief. 112

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