Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1958

die, die sie im Osten umhergehen ließen, wurden noch stiller als die andern. Die frühe Dämmerung des Winterabends machte die Stuben dunkel. Wer noch ein paar Zeilen auf ein Blatt Papier gekritzelt hatte, faltete es und steckte es in die Brust¬ tasche, trat ans Fenster und blickte auf den Hof hinab, auf dem die Wagen der Flüchtlinge in Schneetreiben und Finsternis versanken. Der Kamerad aus Königsberg, der junge Musiker, trat ein und setzte sich zu mir aufs Bett. Du, sagte er, meine Tochter kommt. Ich habe ein Telegramm erhalten, meine Frau hat es geschickt, sie kommt mit Brigitte. Ich war in der Stadt und habe im Hotel ein kleines Zimmer gemietet, dort wollen wir Weihnacht feiern. Auch ein Bäumchen habe ich besorgt. Jetzt geh ich, es zu schmücken, ehe sie ankommen. Um acht Uhr wollen wir die Kerzen anzünden. Komm du zu uns, ich werde es Weber sagen, daß auch er kommt. Als es Zeit war, zog ich Mantel und Mütze über und ging, um Weber zu holen. Aber er war nicht auf seiner Stube. Er hatte am Abend noch ein großes Paket erhalten und war jetzt mit dem Back= und Zuckerwerk in die Unterkünfte der Flüchtlinge gegangen, um es an die Kinder zu verteilen. Ich fand ihn gleich in der ersten Halle. Wir gingen zusammen in die Stuben und Ställe und in die geräumten Speisesäle, in denen überall die Flüchtlinge ihr Lager aufgeschlagen hatten. Sie hockten um die rauchenden Öfen, sie lagen auf dem schütteren Stroh in Mäntel oder Decken gehüllt, und starrten mit trüben Augen in die Glut. In Kan¬ nen und Schüsseln hatten sie aus den Mannschaftsküchen heißen Kaffee geholt, und nun tranken sie aus Bechern und Büchsen und kauten das dunkle Soldatenbrot dazu, das sie empfangen hatten. Junge Frauen saßen auf Pferdedecken, sie hatten Bluse und Hemd geöffnet und säugten ihre Jüngsten, die sich ihnen gierig schmat¬ zend an die weiße, runde Brust warfen. Da und dort brannte eine Kerze. Kinder und Greise knieten und kauerten davor und schauten in die gelbe Flamme und sogen den Wachsgeruch ein. Irgendwo in einer Ecke spielte jemand ein Weihnachts¬ lied auf einer Mundharmonika. Halbwüchsige Mädchen standen vor den Türen im Dunkel. Manche weinten leise vor sich hin und andere flüsterten mit den Soldaten und ließen sich küssen. Ein Alter stapfte mit einer Laterne über den Hof zu den Ställen, um nach den Rossen zu sehen, die laut wieherten und sich schlugen. Wir teilten das Backwerk aus, aber es reichte nicht für alle. Da gaben es die Knaben den Mädchen und die Größeren den Kleinen, andere teilten ein Stück Leb¬ kuchen mit dem Nachbar oder steckten es einem Alten in den Mund. Dazu lachten sie ein wenig und sagten: Schmeckt es nicht wie zu Hause, Alterchen? Auf dem 60

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