Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1957

den Tisch und fegte ein paar Pfeffernußkrumen mit der Hand zusammen, und erst nach einer längeren Pause blickte sie wieder auf und sprach, als sei nichts vorge¬ fallen, von anderen Dingen. Ich glaube kaum, daß ich jemals so beschämt gewesen bin, und noch später als erwachsener Mann überkam mich, wenn ich daran dachte, das unbequeme Gefühl einer empfangenen und wohlverdienten Züchtigung. Dergleichen Zurechtweisungen beeinträchtigten indessen weder meine Zuneigung noch das sichere Gefühl, der Liebling des Hauses zu sein; war doch die zweite Toch¬ ter, welche derzeit in einer fernen Großstadt in guten Verhältnissen verheiratet war, die treue und langjährige Pflegerin meiner Kinderzeit gewesen. Viel zu früh er¬ schien jedesmal der Kutscher meiner Eltern, um mich nach Hause zu holen, oder es schlug, als ich später meinen Weg allein finden mußte, von der alten Wanduhr zehn. Ich weiß noch wohl, wie ich in der letzten Viertelstunde mit Lena kämpfte ob nicht noch Zeit sei für wenigstens eine ganz kleine Geschichte, und wie es dann plötzlich in der Uhr einen Ruck tat und die Warnung vor dem Stundenschlag alle meine Hoffnung zunichte machte. Dann aber galt es, nach Hause zu kommen; und das „Vorüben“ und das „Jauken“ drüben in der Au, alles konnte mir unterwegs begegnen; dazu waren die Lichter in den Häusern schon ausgetan, denn die Straße wurde zumeist von sogenannten kleinen Leuten bewohnt, welche, wenn der Taglohn verdient war, früh zur Ruhe gingen. So legte ich mich denn aufs Betteln und ließ nicht nach, bis Lena die Kommodenschublade aufgezogen und ihr Umschlagetuch herausgenommen hatte. Wenigstens bis an das Ende der bösen Plankenstrecke mußte sie mich begleiten; aber auch dann noch ließ ich sie nicht los; zum mindesten mußte sie stehenbleiben und hinter mir her, und zwar recht laut, ein paarmal „Gute Nacht rufen, bis ich spornstreichs, mein flimmerndes Laternchen in der Hand, um die nächste Straßenecke schwenkte; denn von hier aus waren es nur noch wenige Schritte bis zum Hause meiner Eltern. Alles dies hat viele Jahre gedauert; und frisch und erquickend ist mir die Er¬ innerung an jene Menschen geblieben, denen ich so viele glückliche Stunden meiner Jugend verdanke. Allmählich aber ging die Zeit dahin; ich verließ unsere Stadt um die Studien für meinen künftigen Beruf zu beginnen; sie blieben in ihrem Häuschen und trieben es in alter Weise fort. Dann eines Tages kam der Tod, nahm Vater Wies aus seinem Lehnstuhl und legte ihn in ein noch bequemeres Ruhebett; und als ich nach Jahren heimgekehrt war und schon mein eigenes Heim gegründet hatte, ergriff er auch die arbeitsame Hand der alten Mutter, zog sie von ihrem Backtroge und ihrem Spinnrade fort und hieß uns sie auf dem schönen, grünen Kirchhof zur Ruhe legen, wo von der See her die kühlen Lüfte über die Gräber wehen. Lena war nun allein; aber sie nahm eine junge Verwandte ins Haus und setzte mit deren Hilfe den elterlichen Betrieb fort. Oftmals in der schönsten Som¬ merszeit, wenn hinten in ihrem Gärtchen die Zentifolien blühten, kamen aus der großen Stadt die Schwester oder deren Kinder auf Besuch; dann wurde es lebendig in dem niedrigen Häuschen; Kammern und Herzen, alles voll Sonnenschein. Aber auch diese jüngere Schwester sollte sie überleben. Als ich auf die Todesnachricht zu ihr ging, fand ich sie eben beschäftigt, aus Schubfächern und Kästchen ihre Barschaft zusammenzusuchen; es sollte heute noch alles an ihren Schwager abgesandt werden, — so sagte sie — die Überlebenden außer der Trauer nicht etwa noch mit damit der kleinen Not des Lebens zu kämpfen hätten. Zeit, daß die Dänenherrschaft mich aus dem Lande trieb, und Dann kam die ich sah meine Freundin nur, wenn ich, in oft mehrjährigen Zwischenräumen, zum Besuch bei meinen Eltern einkehrte. Voll Zornes hoffte sie fest auf den endlichen Sieg der deutschen Sache. Dies und die Kränkungen, die sie von dem Übermut der feindlichen Nation erdulden mußte, gaben uns jetzt den Stoff zur Unterhaltung. Als endlich bei uns die deutsche Schmach ihr Ende erreicht und ich in meiner Vater¬ stadt wieder einen Platz gefunden hatte, traf ich Lena Wies noch rüstig an Körper und Geist, und mit der vollen Freude der Genugtuung trat sie bei unserem Wieder¬ 50

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