Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1955

Noch schlimmer stand es mit anderen, etwa mit unserem Großvater, von dem die Sage ging, das er als Bergführer eine Goldader entdeckt hatte, aber vorzeitig krank wurde und als der düstere Mensch, der er war, mit seinem Geheimnis zu Grabe ging. Manchmal, wenn ich Sommers um Beeren geschickt wurde, nahm ich heimlich sein Bild mit mir, des Glaubens, er werde es sich doch nicht versagen können, ein bißchen sein Gesicht zu verziehen, wenn ich zufällig seinem Schatz auf die Spur käme. Aber das tat er nicht, er blieb verschlossen, ein unheimlicher Mann mit seinem schwarzen Wangenbart, Gott verzeihe ihm. Wir könnten alle in Freuden leben, wenn er nur rechtzeitig den Mund aufgetan hatte. Das andere, das weltliche Buch aber war der Kalender. Den kaufte der Vater im Spätherbst auf dem großen Jahrmarkt, und wenn der dicke Band endlich erstanden war und sicher in meinen Armen lag, dann hatten alle Bu¬ den mit Knallbüchsen und Rollschlangen, mit Lebkuchen und türkischem Honig keinen Reiz mehr für mich. Denn der Kalender barg unerschöpfliche Schätze an Kurzweil und Erbauung für ein ganzes Jahr. Die eigentlichen Kalenderseiten blieben freilich der Mutter vorbehalten. Sie merkte dort an, wenn nach Ge¬ statt des Mondes und nach den Tierkreiszeichen unsere Haare geschnitten oder die Bohnen im Garten gelegt werden mußten. Das war eine geheime und weitläufige Wissenschaft, in der nur die Mutter Bescheid wußte, und selbst der Vater zweifelte offenbar nicht daran, das sie es gewissermaßen in ihrer Macht hatte, uns alle mit krausem Haar vom Widder oder mit glatten vom Wassermann zu versehen. Aber der übrige Teil des Kalenders gehörte mir. Wochen brachte ich allein damit zu, die Bilder alle farbig auszumalen oder nach meinem Gefallen zu ergänzen, und dann waren noch immer die Geschichten nicht gelesen, die Merkwürdigkeiten der Welt nicht bestaunt, kein Rätsel war gelöst und kein Spaß verstanden. Beiläufig gesagt, ich konnte mich an Scherzen überhaupt nicht belustigen, ich wollte jeden ergründen. War etwa von dem Gast die Rede, dem der Kellner die Fliege in der Suppe als Fleischgericht anrechnet, so plagte ich den Vater tagelang mit dieser Fliegengeschichte, sie war für mich kein Scherz, sondern eine bitterernste Rechtsfrage. Bitterernst nahm ich auch alle anderen Erzählungen. Der Kalendermann Er hatte einen seherischen Blick für alles Ratselhafte und Künftige, und wenn¬ gleich die Mutter meinte, ein Mensch werde niemals fliegen lernen, es holte ihn denn der Teufel durch die Lüfte, wie es zuweilen vorgekommen sei, so glaubte ich doch an das Wunder und mein Glaube hat recht behalten. Ich las die Berichte von den Abenteuern frommer Missionäre, die ergreifenden Bei¬ spiele vom Kampf der Tugend gegen die Mächte der Finsternis 1ach, nie wieder im Leben ist mir das Gute so liebenswert, das Böse so verächtlich er¬ schienen! Manche dieser Geschichten könnte ich noch heute nacherzählen, heute freilich nicht ohne ein Lächeln. Aber vielleicht macht es gar nicht sehr viel aus, das ich zu allererst bei einem einfältigen Kalendermacher statt bei einem grö¬ deren Licht des Geistes in die Lehre ging. Und heimlich hole ich mir ja noch immer Rat aus der Erinnerung, wenn mein eigener Witz versagt, und alle Weisheit, die auf Stelzen geht. Um jene Zeit kamen auch andere Bücher in meine Hand, aber die waren mir viel weniger lieb. Denn zwischen der ersten Fibel und dem Leitfaden der Naturgeschichte für die Oberstufe senkte sich immerfort Schulstaub und Müh¬ sal auf meine Kindheit herab. Die Mutter hatte es für sündhaft gehalten, ein W Buch zu kaufen, das nicht zum Lernen oder sonst für einen nützlichen Zweck taugte. Ich war aber um so eifriger hinter allem Gedruckten her, und beson¬ der die Ruhebänke auf den Promenaden hielt ich im Auge, weil vergeßliche Kurgäste dort manchmal ihre Bücher liegen ließen. Brachte ich so einen Fund nach Hause, so verschloß ihn die Mutter gleich in der Nählade, damit ich nicht 46

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