Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1955

Freude an V Sucher 2 Es Karl Heinrich Waggert Aus meinem Kindesalter sind mir zwei Bücher in dauernder Erinnerung geblieben, ein geistliches und ein weltliches. Das eine war das Gebetbuch meiner Mutter. An Sonntagen, wenn ich neben ihr im Kirchenstuhl hockte und nach und nach alles versuchte, was sich mit bloßen Händen und Füßen gegen die Langeweile erfinden läßt, dann sah die Mutter plötzlich zürnend auf mich nieder und gab mir das heilige Buch. Sie hatte sichtlich gern ein Kopfstück vorausgeschickt, aber das durfte sie hier nicht tun, die Kirchenbank war eine Freistatt aller Sünder. So saß ich also beglückt und warm zwischen weiten Frauenröcken eingebettet, hielt das Buch auf meinem Schoß und blätterte darin. Schon der Druck war wunder¬ sich groß genug, groß und verschnör¬ kelt, Gottes oder Christi Namen standen immer rot dazwischen und füllten eine ganze Zeile aus. Ich buchstabierte die seltsamen Anrufun¬ 7 gen und Litaneien, darin die Mut¬ tergottes ein elfenbeinerner Turm genannt wird, ein goldenes Haus oder eine Arche, und die nimmt es —0 nicht übel. Vor allem aber betrach¬ tete ich immer wieder die vielen losen Bilder zwischen den Blättern. Da gab es Andenken an Wallfahr¬ ten, die sich meine gute Mutter für das Heil der Ihren auferlegt hatte, manche kostbar bemalt oder mit 1 Goldstaub bestreut, und andere, die und man auseinanderfalten konnte, zum dann kam Unsere Liebe Frau Vorschein, schwarz von Angesicht und ein wenig einer gesprenkelten Motte ähn¬ sich. Auf manchen Blättern sah man Heilige abgebildet, die wurden einem nach der Beichte mitgegeben, damit der Büßende nicht ganz ohne Trost und Beistand blieb. Am zahlreichsten aber waren die Sterbebilder. Ich fand unsere ganze jen¬ seitige Verwandtschaft im Gebetbuch der Mutter versammelt. Einige hatte ich selber bei Lebzeiten gekannt, dann waren sie plötzlich verschwunden und eine Weile später tauchten sie in diesem Buche wieder auf. Viele aber waren mir ganz fremd, die Mutter nannte mir ihre Namen, wenn ich auf dem Heimweg danach fragte, und manchmal knüpfte sie auch ein mahnendes Wort daran. Der war liederlich, sagte sie, und deswegen ließ ihn Gott in den Wildbach fallen, merk dir das! 45

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