Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1915

28 Tür, schritt einige Male im Gemache auf und nieder, blieb dann plötzlich vor dem Juden stehen, der bescheiden nicht weit von der Tür verblieben war, kreuzte die Hände auf der Brust und ah dem alten Abraham fest und for¬ schend und sehr bedeutungsvoll in die Augen. Der Jude hatte die rechte Hand auf der Brust in den Falten des ab¬ getragenen, nicht ganz reinlichen Klei¬ des verborgen, die linke Hand lag ihm am Rücken und seine Haltung hatte al¬ les Demütige vollkommen abgestreift. Nicht übermütig oder gar anmaßend stand er da, sondern seine Haltung verriet den Mann, der sich seines Wis¬ ens bewußt ist und der mit einem Manne von gleichen geistigen Eigen¬ chaften zu sprechen hat — der Arzt stand dem Arzte gegenüber. Ruhig hielten seine Blicke diejenigen des Paters aus und die Augen des Ju¬ den führten dieselbe stumme und doch so beredte Sprache, wie diejenigen des Paters Erasmus — sie verstanden sich. Doch keiner wollte zuerst das drückende Schweigen brechen, jeder schien von der überwältigenden Größe dieses Augen¬ blicks gänzlich durchdrungen zu sein und die Schwere dessen, was ihre Augen sich sagten, schien ihre Zungen ge¬ lähmt zu haben. Plötzlich befreite sich der Pater aus dem Banne, in welchen ihn die Er¬ kenntnis eines so großen Unglückes ge¬ egt zu haben schien — er streckte die mächtigen Glieder, warf den Kopf hoch, und indem seine Hand erregt die Silberfäden seines langen Bartes zu zählen schien, fragte er kurz und rauh: „Nun?“ Der alte Abraham sah seinem Ge¬ genüber fest in die Augen, senkte fast — und unwillkürlich das kahle Haupt nickte stumm. Eine sonderbare Veränderung ging bei dieser so einfachen Kopfbewegung des Juden im Antlitze des greisen Paters vor. Er wurde abwechselnd blaß und rot, fuhr sich mit der Hand einige Male leicht über die gefurchte Stirne und murmelte im Tone hoher Erregung und schmerzlicher Empfindung. „Gerechter Himmel — und ich hab's nicht glauben können, nein, nicht glau¬ ben wollen, — du hast Recht, Abra¬ ham, wir beide haben leider nur zu — es ist so!“ Recht „Und seit Jahr und Tag so,“ sagte der alte Abraham, die Hände so vorne über den Leib kreuzend, daß die Handflächen die Ellbogen berührten und seine Mienen verrieten jetzt ebenso aufrichtig Schmerz und Kümmernis, wie die des Paters. „Ja,“ murmelte dieser, wieder seine Barthaare zausend, „seit Jahr und — aber durften wir es sagen?“ Tag „Nein,“ sagte der Jude bedächtig, „das war auch meine Ansicht — und zu welchem Zwecke hätten wir dem ar¬ men gnädigsten Herrn Herzog auch die Wahrheit enthüllen sollen? Es ist keine — er hat ein Jahr ohne seine Hilfe und Krankheit zu kennen, verbracht — das war für ihn eine Wohltat.“ eine reine Wohltat,“ meinte „Ja — Pater Erasmus, „aber jetzt ist die Sache so weit, daß sie nicht mehr zu verheimlichen ist, auch muß dafür ge¬ sorgt werden, daß die Krankheit sich nicht auf andere überträgt, und hun¬ dert Gründe für das Staatswohl zwingen uns zu reden, daß die Krank¬ heit unseres Herrn Herzogs —“ der Pater brach plötzlich ab, als könne er den Namen nicht aussprechen, der ihm sozusagen auf der Zunge lag, aber der alte Abraham, dem die Angelegen¬ heit nicht minder peinlich war, sah mit festem Blick auf den Mönch und sagte: „O, sprecht es doch endlich aus, das unheimliche, entsetzliche Wort, das seit einem Jahr eure und nun unser beider Tatkraft lähmt: Ja — es muß end¬ lich dem Lande Steier gesagt werden: Der Herzog Ottokar ist aussätzig!“

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