Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1914

70 herbeigeführt und es so auch der Habs¬ burger Monarchie ermöglicht, ihre dies¬ fälligen militärischen Maßnahmen wieder zum großen Teil wenigstens aufzulassen. Dieser allgemeinen Skizze wollen wir nunmehr eine summarische Chronik der Kriegsereignisse auf dem Balkan folgen lassen. Als wir unseren letzten Bericht schlossen, stand Albanien in hellem Aufruhr, der durch eine unkluge, die Eigenart des alba¬ nischen Volksstammes nicht berücksichti¬ gende oder gar schonende türkisierende Po¬ litik der Jungtürken heraufbeschworen, der erste konkrete Ausgangspunkt zu kriegeri¬ schen Konflikten werden sollte, welche dem Reiche der Osmanen in Europa ein Ende zu bereiten drohten und dasselbe auch tat ächlich um einen großen Teile seines europäischen Besitztums brachten. Zudem gab es auch in anderen Provinzen des türkischen Reiches Unruhen und bedrohliche Bewegungen. In der Armee selbst aber führte eine neue politisierende Bewegung eines Großteiles des Offizierskorps, die von Albanien ausgehend sich gegen das Jungtürkentum richtete, zu schweren Un¬ zukömmlichkeiten, zu Meutereien und, was das schlimmste war, zu einer in so bedroh¬ lichen Zeiten um so schlimmeren Spaltung im Ofifzierskorps, was den damaligen Kriegsminister Mahmud Schefket Pascha ein Mitglied der jungtürkischen Partei der Führer des historischen militärischen Zuges von Saloniki nach Konstantinopel, der mit der Absetzung und Gefangennahme Abdul Hamids II. endete — zur Einbrin¬ gung eines Gesetzentwurfes veranlaßte, welcher den Offizieren untersagte, sich mit Politik zu befassen. Dieser Gesetzentwurf blieb, obwohl rasch zum Gesetz erhoben wie die fast gleichzeitige Bildung einer neuen militärisch=politischen Partei, der „Liga der militärischen Einheit“, und die späteren Ereignisse bewiesen — ein Schlag ins Wasser, insbesondere schon deshalb, weil der tatkräftige Minister, welcher den Gesetzentwurf eingebracht hatte, schon wenige Tage darauf seine Demission gab, der bald auch die Demission des ganzen jungtürkischen Kabinetts Said Pascha folgte. An der Spitze des neugebildeten Kabinetts stand Ahmed Muktar Pascha, dem Nasim Pascha als Kriegsminister zur Seite gegeben war. Das neue Kabinett stellte sich auf die Seite der obenerwähnten neuen Militärliga, unter deren Druck es ja entstanden war. Es wollte insbesondere eine Anderung in der Behandlung der al¬ banesischen Angelegenheiten einführen stand aber bald vor einer neuen, rasch ent¬ standenen, sehr radikalen Militärpartei, die sich die „Liga der rettenden Offiziere nannte und mit dem Verlangen nach Schließung der Kammer binnen 24 Stun¬ den debutierte. Die Regierung brachte denn auch noch am 31. Juli in der Kammer einen Antrag ein, in welchem die Abände¬ rung des Art. 7 der Verfassung betreffend das Recht des Sultans, die Kammer auf¬ zulösen, dringend verlangt wurde, während gleichzeitig der Sultan alle Minister und Würdenträger des Regimes Abdul Hamid begnadigte. Da die Kammer nicht willens war, den eingebrachten Entwurf zu geneh¬ migen, ließ die Regierung durch den Senat nach Annahme einer Anderung des Art. 47 der Verfassung, nach welcher die Kammer „erst nach Ablauf der Legislatur¬ periode aufgelöst werden könne“ und nach einer sehr gewagten Interpretation dieser Bestimmung, wonach der Senat das Rech hatte, die Legislaturperiode für abgelaufen zu erklären, den Beschluß fassen, daß die Legislaturperiode eben abgelaufen sei und daß der Senat danach der Auflösung der Kammer zustimme. Der Senatsbeschluß er¬ hielt sofort die Sanktion des Sultans. Die Jungtürken erklärten den ganzen Vorgang als einen Staatsstreich und beschuldigten in erster Reihe den Kriegsminister, diesen Staatsstreich verursacht zu haben und dann einer unberechtigten Bevorzugung der der „Liga“ angehörenden Offiziere. Diese Stellungnahme des Kriegsministers sollte er später mit seinem Leben bezahlen. Die Regierung beschloß nun im Sinne der Zustimmung des Senats, die Kammer auf¬ zulösen, ehe sie aber diesen Beschluß der Kammer notifizieren konnte, hatte diese in einer ad hoc einberufenen außerordent lichen Sitzung beschlossen, sich selbst auf

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