Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1909

52 durch die Türe versperrt war, mit einem gewaltigen Satz durchs offene Fenster ins Freie. „Hilf Himmel, er wird sich zerschmet¬ tern!“ rief der Bürgermeister. Er und die anderen liefen zum Fenster. Da sahen sie den Posamentierer mit der Geschwindigkeit eines Windhundes über den Marktplatz rennen. Nach wenigen Sekunden verschwand er in der nächsten Gasse. Der Sprung aus einer Höhe von etwa fünfzehn Fuß hatte ihm offenbar nicht geschadet. „Was hat der Mann verbrochen, Hoch¬ würden? Ihr beschuldigt ihn des Kir¬ chenraubes, das ist sehr ernst.“ „Ich hatte ihm die Altardecken der Kirche zur Ausbesserung anvertraut; da hat er die Gelegenheit benutzt, die echten goldenen Fransen und silbernen Sticke¬ reien zu stehlen und durch unechte zu er¬ setzen. Es ist ein Schaden von mehreren hundert Talern. Zuerst bemerkte ich es nicht, denn die Fälschung ist sehr ge¬ — schickt ausgeführt. Aber heute Morgen wurde ich von einem Goldschmied aus Freiberg, der ein neues Kirchengerät an mich ablieferte und dem ich die Altardecke zeigte, darauf aufmerksam gemacht. Die Sache ist außer allem Zweifel. Der Po¬ samentierer Friedel hat einen frechen Kirchenraub verübt.“ „Ihr mögt wohl Recht haben, Hoch¬ würden“ versetzte der Bürgermeister. „Es ist mir bekannt, daß Friedel mit dem berüchtigten, jetzt kriminell verfolg¬ ten Hehler Löbel Hirsch aus Breslau in Verbindung gestanden und an ihn kost¬ bare Tressen verkauft hat.“ „Wann?“ „Vor vier Wochen.“ „Das werden jedenfalls die goldenen Fransen und silbernen Stickereien von unserer Altardecke gewesen sein.“ Gerichtsdiener!“ „Ja, ja! — „Euer Gestrengen?“ „Ruft Eure Kollegen, eilt mit ihnen ohne Verzug nach der Kreuzgasse und nehmt den Posamentierer Friedel in Haft.“ „Zu Befehl, Euer Gestrengen.“ „Ich folge Euch sogleich.“ „Sehr wohl!“ Die Gerichtsdiener eilten fort, um den Auftrag auszuführen. Zehn Minuten nachher folgte der Bürgermeister mit dem Gerichtsschreiber und einigen ande¬ ren Herren. Als sie den Eingang zur Kreuzgasse erreichten, sahen sie eine dichte Rauch¬ wolke aufsteigen und an dem hinter der Gasse befindlichen steilen Berghang hinaufwallen. „Da ist Feuer!“ schrie der Gerichts¬ chreiber. „Des Posamentierers Haus brennt!“ rief ein anderer. „Vorwärts! „Feuer! Feuer!“ riefen jetzt viele her¬ beieilende Leute. Der Türmer an der nahen Kirche be¬ gann die Feuerglocke zu läuten. Meister Friedels Haus stand in hellen Flammen und war unrettbar der Ver¬ nichtung geweiht. Viel Reisig und Dürr¬ holz, welches darin aufgespeichert war knisterte und prasselte und wurde ver¬ zehrt vom gierigen Element. Vom Posa¬ mentierer selbst aber war keine Spur zu entdecken. — Während man die nötigen Maßregeln traf, um die Nachbarhäuser zu schützen, schrie die alte Spitzenklöpp¬ lerin, welche im nächsten Hause wohnte: „Das hat der Unhold selber getan!“ „Wer?“ fragte der Bürgermeister. „Der Posamentierer.“ „Habt Ihr ihn gesehen?“ ∆ „Ja; er rannte wie ein Wütender die Straße herauf und sprang in sein Haus. Ein paar Minuten nachher brach das Feuer aus. Saht Ihr ihn fortlaufen?“ „Ja, er lief wie ein Hund den Berg hinauf. Ich bin jetzt überzeugt, daß der chwarze Hund der das Geld stehlen wollte, niemand anders war als der Po¬ samentierer selbst. Fragt die Bergleute, Euer Gestrengen; sie haben den Unhold auch gesehen, als sie vom Berge nieder¬ tiegen.“ Der Bürgermeister befragte einige Bergleute, die zur Stelle geeilt waren

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