Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1908

60 entnommen und setzten die hohen, schwar¬ zen Filzhüte auf. Sie brachen beide in lautes Lachen aus, als sie, nach beendeter Toilette, ihr Konterfei im Spiegel be¬ trachteten. „Nun, sehen wir nicht prachtvoll aus, alter Junge?“ rief Zillich übermütig. „Du nimmst die Sache, wie es scheint, sehr leicht,“ sagte Marr, indem er vor dem Spiegel seinen Schnurrbart zwir¬ belte, „ich ganz und gar nicht, bedenke doch, was wir verdienen müssen, um un¬ ser täglich Brot zu verdienen“, setzte er mit pathetischer Stimme hinzu. „Nun muß es losgehen, Freund, die paar Groschen gehen für das Nachtlager und die Zeche d'rauf. Unsere Habselig¬ keiten lassen wir bei dem ehrenwerten Wirt, nehmen nur das Nötigste im Ruck¬ sack mit, und nun komm.“ Sie schnallten die Rucksäcke auf den Rücken und begaben sich mit ihren Hand¬ koffern zum Wirt, um ihn zu bitten, die¬ selben bis zu ihrer Rückkehr, die ungefähr in zwei Wochen erfolgen würde, zu ver¬ wahren. Der Wirt riß die Augen weit auf, als er die beiden ins Gastzimmer treten sahn gestern so elegant, heute so schäbig! Marr bemerkte den fragenden, mißtrauischen, kritischen Blick des Alten. „Wir wollen Fußtouren machen, haben diesfalls unsere schlechtesten Sachen an¬ gezogen, verstehen Sie, Herr Wirt?“ „Versteh', versteh', sagte der biedere Holländer, indem er mit seinen kleinen Aeuglein listig zwinkerte, „ungekannt bleiben, Abenteuer bestehen —jo, de 0 Jugend, de Jugend! Heren S', mine Herren, gehen S' ins nächste Stadel, do is Jahrmarkt, do kennen S' was verdiene“ setzte der biedere Wirt lachend hinzu. Der Rat war gut und sollte befolgt werden. Sie griffen tapfer aus, die bei¬ den, um noch vor Mittag etwas zu ver¬ dienen, denn — sie hatten faktisch nicht einen Groschen mehr, alles ausgegeben, das war ja eben der größte Reiz bei der Sache. Die Sonne brannte heiß, die Straße war staubig, trotzdem waren sie munter und guter Dinge, sangen und pfiffen manch lustig Liedlein. Es war ein herrliches, frisches, freies Vagabundenleben, das sie führten. In den von ihnen bezeichneten Städten fan¬ den sie postlagernd Briefe aus der Hei¬ mat, die sie pflichtschuldigst beant¬ worteten. „O weh, nur noch acht Tage, Freund“ sagte Marr zu Zillich eines Abends, als sie nach beendeter Tournee in der Kneipe abseits an einem Tischchen saßen und er sorgsam und gewissenhaft das Geld zählte, das sie heute eingenommen. „Diese letzten acht Tage wollen wir recht genießen, Wolf, frisch und splendid leben, denn wir brauchen ja Geld nicht zu schonen, wir haben ja unsere Rück¬ fahrtkarten. Das Schenkmädchen brachte schäumen¬ des Bier. Marr, nachdem er getrunken, sagte ernsthaft: „Wir haben viel Glück gehabt, weißt du das? Ich meine, daß uns die Pässe nicht einmal abverlangt worden sind; was hätten wir tun sollen? Wir sind so un¬ klug gewesen, sie nicht mitzunehmen; ich habe nicht daran gedacht.“ „Ich auch nicht“ sagte Zillich treu¬ herzig. „Hätt' uns auch nichts genützt wir wären wahrscheinlich in die größten Unannehmlichkeiten gekommen, die Pässe lauten auf zwei Offiziere, und wir bei¬ den Geiger wären am Ende noch in den — Verdacht gekommen, die Passe gestohlen zu haben. „Du hast recht,“ sagte Marr, „aber immerhin, Glück muß der Mensch haben, und so wollen wir auf ein glückliches Ende des genialen Streiches anstoßen, denn das war und ist er doch, denkst du nicht, Wolf?“ „Na, das will ich meinen, der genialste Streich, den sich ein Oberleutnantshirn ausdenken konnte. Sie stießen an, tranken ihr Bier aus, bezahlten ihre Zeche und fort ging es, dem nächsten kleinen Dörfchen zu, wo ie abends in der Schenke zum Tanz spielen wollten. Dort, an solchen Orten, spielten sie am liebsten, dort fühlten sie

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