Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1907

20 zwungenermaßen still sitzen muß! Diese Idee ist nun vollends nicht einmal der Mühe der Widerlegung wert! Heut kön¬ nen Sie einmal wieder hinausgehen; die Sonne scheint prachtvoll — da werden □ Ihre Grillen denn schon verfliegen. Allein statt, wie der wackere Mann vorausgesetzt hatte, gestärkt und erfrischt, kehrte Fritz am Nachmittage leichenblaß und verstört von einem kurzen Ausgange wieder in das Hospital zurück. Gerade als er unter der Wölbung des Stadttores hindurchgeschritten war, um seinen Weg ins Freie zu nehmen, war sein Auge auf zwei Männer gefallen, die von der entgegengesetzten Seite her eben in das Tor einlenkten. Der eine von ihnen trug die Uniform eines Gendar¬ men, der andere, der mit geschlossenen Händen vor jenem herschritt, war Peter Nettelmeier. Einen haßerfullten Blick warf der letztere auf den vor Ent¬ setzen fast zurücktaumelnden Heimats¬ genossen — im nächsten Augenblick waren sie einander aus dem Auge entschwunden. Auf seinem Zimmer wieder angelangt saß Fritz lange Zeit, den Kopf in den auf den Tisch gelegten beiden Armen ver¬ graben und vergeblich sich bemühend, des soeben erhaltenen schrecklichen Eindrucks Herr zu werden. Dann endlich erhob er sich wie mit einem plötzlichen Entschlusse, erbat sich Feder und Papier von einem der Wärter und schrieb an Dore einen Brief voll Reue und Zerknirschung. Sie und sie allein sei es gewesen, die ihn vor einem Schicksale bewahrte habe, wie es jetzt Peter Nettelmeier treffe. Keine andere als sie habe ihn verhindert, zum Mörder zu werden; denn das wisse er gewiß, daß er damals in seiner furcht¬ baren Erbitterung seinen Feind ohne weiteres niedergeschlagen haben würde Der Brief mußte noch in der näm¬ lichen Stunde zur Post wandern, obgleich Fritz ganz wohl wußte, daß vor dem „ nachsten Morgen keine Beförderung nach seinem Heimatsdorfe stattfinde. Er be¬ rechnete die Stunde, ja fast die Minute, wann Antwort kommen konnte; aber die Antwort kam nicht. Er war erfinderisch, sich allerhand Möglichkeiten auszudenken, so die Dore verhindert haben könnten, rasch wie er gehofft und gerechnet hatte, wieder zu schreiben; allein ein Tag nach dem andern verging, ohne daß er ein Lebenszeichen von ihr erhielt. Endlich, an einem trüben, unfreund¬ lichen Nachmittage, als er wie gewöhn¬ lich am Fenster saß und trostlos in den leise herabrieselnden Regen hinausblickte, ward ihm Botschaft gebracht, daß im Sprechzimmer jemand seiner harre. Voll ungestümer Erwartung sprang er auf und richtig — als er die Tür des bezeichneten Zimmers öffnete, stand vor ihm Dore, blaß und ernst, und reichte ihm die Hand her. „Fritz, ich seh' es dir schon am Ge¬ sicht an, daß du keinen Groll mehr gegen mich hast und kann nun beruhigt gehen.“ „Gehen, Dore?“ fragte er und der Atem stockte ihm; „wohin wolltest du gehen?“ „Ich wandere aus nach Amerika, Fritz!“ „Nein!“ schrie er auf, „daß ist nicht möglich! Ich sage, du darfst nicht! Das ist die ganze Antwort, die du auf meinen Brief hast? „Auf deinen Brief?“ fragte sie verwun¬ dert. „An mich geschrieben hast du? Ich habe nichts erhalten! Wann hast du das Schreiben abgeschickt? „Vor zehn Tagen!“ sagte er und seine Hand suchte nach einer Stütze, so sehr zitterte er am ganzen Körper. „O, Dore! Wie ich mich nach einer Antwort von dir gesehnt habe, das kann ich keinem Men¬ schen sagen und beschreiben! „Und den Brief hattest du nach Eller¬ hagen adressiert?“ forschte sie, während ein ganz eigentümliches Leuchten in ihren Zügen aufging. „Ja, Dore! Seit ich Peter Nettelmeien mit den geschlossenen Händen hier ein¬ gebracht werden sah, hab ich keine Ruhe mehr gehabt. Ich mußte deine Verzei¬ hung haben, denn wärest du nicht ge¬ wesen, so hätte man mich als Mörder an die Gerichte geliefert; nur du hast es verhindert, daß ich Blutschuld auf mich lud.

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