Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1905

50 „Was hast du, Kind? Du bist ver¬ stimmt und wortkarg.“ „Ach ja, Tante,“ kam es übersprudelnd von den jungen Lippen, „wenn man alles tut, um einen kleinen Erwerb zu finden sich müht von früh bis abends und nichts, nichts glückt einem, dann wird man mi߬ mutig und mutlos.“ „Es ist das erstemal, daß ich dich un¬ zufrieden sehe, Elisabeth,“ kam es von den Lippen der Tante, indem sie die Nichte groß und voll ansah. □ „Ich bin nicht unzufrieden,“ sagte Eli¬ sabeth heftig, indem sie trotzig auf ihren Teller sah. „Ich will das Geld doch nicht für mich, Tante, ich habe doch einen guten Zweck vor Augen.“ „Und da meinst du wohl, du kannst den lieben Gott regieren, damit es geht wie du es wünschest? Lerne vor allen Dingen Geduld, mein Kind, denn Ge¬ duld ist eine hohe christliche Tugend, die wie alle Tugenden, nur durch Uebung zu erwerben ist.“ Die Falten auf der Stirne des jungen Mädchens waren bei den ruhigen gütigen Worten der alten Dame schnell verflogen. Die Tante verstand es, den richtigen Ton mit ihr anzuschlagen, den Ton der Liebe und des sanften Tadels, wenn das junge feurige Temperament einmal mit ihr durchgehen wollte. „Verzeih', liebe Tante, du hast, wie immer, recht,“ sagte sie aufstehend und der alten Dame die Hand küssend. „Ich will mich bemühen, besser zu werden, setzte sie hinzu und ging gesenkten Hauptes zur Tür hinaus. Feuchten Auges blickte ihr die Tante nach. „Das ist das Goldene im Charakter dieses Madchens, daß sie stets ihr Un¬ recht einsieht. Gott erhalte ihr diese Demut, denn den Demütigen gibt der Herr Gnade,“ sprach sie für sich. * So war der Herbst herangekommen. Die gewohnte, frühere Sommerfrische —die beiden waren in fehlte diesmal der kleinen Mansarde geblieben. Elisabeth war sehr tätig gewesen, hatte sich durch Verfertigung künstlicher Blumen manchen Groschen verdient, das Geld zurückgelegt oder der Tante kleine Annehmlichkeiten bereitet; so waren sie manchmal an schönen Sommerabenden ein Stündchen spazieren gefahren, sie hatten sich auch dann und wann eine kleine Partie gegönnt in die schöne, grüne Umgebung der Stadt. Wie stolz war Elisabeth dann, von ihrem Gelde, ihrem selbstverdienten Gelde! Jetzt, jeden Herbst, wollte sie sich nun wieder nach Unterricht umsehen, denn das Blumenmachen war ihre Abendbeschäf¬ tigung. Sie war auf dem Nachhauseweg be¬ griffen; sie bog um die Ecke, die zu ihrer Wohnung führte, als sie sich plötzlich Frau v. H., einer früheren, guten Be¬ kannten gegenüber sah. Seit dem „Krach“ hatten sie mit allen Freunden abge¬ brochen, so daß ihr diese Begegnung nicht angenehm war. Frau v. H. nahm ihr aber durch ihre Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit alle Befangenheit und bald plauderten sie un¬ gezwungen zusammen. Frau v. H. er¬ kundigte sich nach der Tante, nach ihrem jetzigen Leben mit der Teilnahme, die keine Neugier kennt, weil sie vom Herzen kommt und deshalb auch wohltuend wirkt. Als Elisabeth Frau v. H. bat, sie doch zu empfehlen, wenn sie von Musikstunden höre, sagte Frau v. H. plötzlich: „Liebe Elisabeth, würde es ihnen viel¬ leicht angenehm sein, die Klavierbeglei¬ „ tung zum Tanzunterricht meiner Tochter zu übernehmen? Ich würde ja nie gewagt haben, es Ihnen anzubieten, Ihnen, dem Künstlerin; da ich aber weiß, wie schwer es bei der Menge von Lehrern und Lehrerinnen ist, g'rad' in diesem Fache Beschäftigung zu finden und Sie solche sehnlichst suchen, so biete ich es Ihnen nochmals an. Besprechen Sie es mit Ihrer Tante und sagen Sie mir bald Antwort da ich mich sonst nach jemand anderem umsehen muß. Einen Gruß an die Tante.

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