Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1905

49 Osterglocken. Von Helenev.Bülow. (Nachdruck verboten.) ir werden uns von jetzt an Aber wie gemütlich war die Wohnung sehr einschränken müssen, Eli¬ wenn nur der gute Vater noch gelebt abeth, denn die Sachen stehen hätte — die Mutter ruhte ja schon lange schlecht. Mein guter Bruder, lange. dein Vater, hat uns nie in seine Verhält¬ Die kleine Mansarde, die in einer der nisse blicken lassen, wir haben groß ge¬ bescheidensten Vorstädte gelegen war, bot lebt, über unsere Verhältnisse und nun eine herrliche Aussicht auf Felder, grüne „ nach seinem Tode kommen die Gläu¬ Wiesen, Walder und Gärten. biger, die man nicht einmal alle befriedi¬ Es war an einem Maimorgen; voll gen kann.“ flutete das Morgensonnenlicht herein; der „ — kleine Vogel zwitscherte in seinem Kafig, „Die wir aber doch befriedigen wer¬ daß es eine Lust war, zuzuhören. Ueber den, Tante?“ dem einfach mit Kretonne überzogenem „Ja, mein Kind, mit der Zeit,“ sprach Sopha hingen die Bilder der Eltern, mit die Tante seufzend. „Erst müssen wir immergrünem Epheu umwunden. Schräg uns unser Leben nach den kleinen Ein¬ in der Stube stand der kleine Stutz¬ künften, die wir noch haben, einrichten. flügel, von dem sich Elisabeth nicht tren¬ „Ach, alles, alles will ich tun, geliebte nen konnte— sie spielte viel und brauchte Tante, du weißt ja, mein Herz hängt auch das Instrument ihrer Stunden nicht an dem Flitter und den Bequem¬ halber. lichkeiten, nur Vaters Schulden tilgen Es war um die Mittagsstunde. Die denn siehst du, Tantchen,“ fuhr sie mit Tante saß, eifrig strickend, am Nähtisch Tränen in den Augen fort, „sein Name der Tisch in der Mitte des Zimmers war soll rein dastehen und ich denke, er kann chon gedeckt, nur Elisabeth fehlte noch; nicht ruhig schlafen in seinem Sarge, sobald sie kam, wollten sie beide ihr ein¬ ehe nicht das Letzte getilgt ist.“ faches Mahl einnehmen. Gerührt küßte die Tante das junge „Elisabeth bleibt lange weg,“ sagte die Mädchen. „Wir werden arbeiten, bis alles Tante für sich; „möchte es ihr doch heute gezahlt ist,“ sagte sie. gelungen sein, ein paar Stunden zu be¬ Einen Monat später finden wir die kommen. Was jagt sich das armeDing beiden in einer hübschen, kleinen Man¬ doch ab und sie ist doch so zart, ich fürchte ardwohnung, gemütlich eingerichtet. Frei¬ immer für ihre Gesundheit.“ Sie seufzte lich, welch ein Unterschied mit der vorigen tief. Dann faltete sie die Hände, wie. zum Wohnung; da gab es kein elektrisches stillen Gebet: „Erhalte sie mir, mein Licht, kein Badezimmer, keinen Em¬ Gott, das letzte, einzigste, was ich noch pfangssalon, kein Speisezimmer— nein habe und führe alles zum guten Ende ein Schlafstübchen für beide, ein hinaus. Amen.“ Wohnzimmer, das zugleich als Eßzimmer Die Glocke erscholl, schnell erhob sich diente, eine ganz, ganz kleine Küche, keine die Tante und: „Da bist du ja, Kind, Mädchenkammer, denn sie hatten kein kam es freudig von ihren Lippen, als sie Mädchen, eine Aufwartung besorgte die Elisabeth vor sich stehen sah. groben Arbeiten, das andere die Tante, Elisabeth trat verstimmt und verdrie߬ denn Elisabeth suchte nach Stunden, um lich ins Zimmer, legte Hut und Schirm in Musik zu unterrichten. Die reiche Ein¬ weg und bald saßen die beiden am Tisch richtung der vorigen Wohnung war ver¬ beim Mittagsbrot. kauft und die dringendsten Gläubiger mit dem Erlöse derselben befriedigt Die Tante warf einen forschenden Blick worden. auf das junge Mädchen: 4

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