Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1904

„Gern —gern,“ stammelte er endlich er, mit trockener Kehle. hei Sie nickte dankend und schritt nun rasch zur Tür. Schon hatte sie die Tür tand des Nebenzimmers geöffnet, schon sie auf der Schwelle, als es ihm schien, daß sie plötzlich strauchle und daß ein schluckzender Laut von ihr zu ihm her¬ „ überdrang. Oder war das nur eine Tau¬ schung seiner erhitzten Sinne? Es war nicht das Resultat eines Ent¬ schlusses, sondern eine unbewußte, in¬ ihr stinktive Handlung, daß er im Nu zu eilte und sie mit seinen Armen umfing. ich Ihr Aussehen überzeugte ihn, daß er nicht getäuscht hatte. Sie war leichenblaß und zitterte am ganzen Körper, und in sich einer Ohnmachtsanwandlung hielt sie krampfhaft an ihm fest und drückte ihr tränenüberströmtes Gesicht schluchzend an seine Brust. „Adele!“ rief er aufs tiefste erschüttert, ohne Bewußtsein der Situation. „Adele!“ Sie weinte bitterlich, aus Herzens¬ grund, wie er sie noch nie hatte weinen ehen. Ihm krampfte sich das Herz zu¬ sammen. Die Liebe, die er seit Wochen und Monaten erbittert in sich zurückge¬ drängt hatte, loderte angesichts ihres fassungslosen Schmerzes in hellen Flam¬ men in ihm empor. Ohne zu wissen, was er tat, streichelte er ihr Haar, und nun beugte er sich herab und küßte ihren Scheitel und ihre Stirn. Sie hob ihr Gesicht zu ihm empor; die hellen Tränen perlten noch in ihren Augen. ist mir ein so furchtbarer Ge¬ „Es danke, flüsterte sie, „von Dir zu gehen mit dem Bewußtsein, daß Du meiner nun immer mit Haß und mit Verachtung gedenken wirst. „Adele!“ rief er mit einem protestieren¬ den Kopfschütteln. „Ja,“ beharrte sie mit einer so zer¬ knirschten, schmerzhaften Miene, daß es ihm in die Seele schnitt, „ja, hassen und verachten wirst Du mich, weil ich Dir das Leben schwer gemacht und Dir soviel Aufregung und Kummer bereitet habe durch meinen Eigensinn, durch meine 37 Widerspruchslust, durch meinen Unver¬ stand. Heute Nacht, als ich nicht schlafen konnte, habe ich darüber nachgedacht, und da ist es mir klar geworden, daß ich ich die Schuld daran trage, daß es nun so weit gekommen ist.“ Ihre Worte trafen ihn im Innersten seines Herzens. Ihre ganz ungewöhnliche Sanftmut und Demut erfüllten ihn mit Freude und Wehmut. Alles Harte und Herbe, alle während der letzten Wochen in ihm angesammelte Erbitterung zer¬ schmolz in Rührung und Schmerz. „Nein, nein!“ rief er. „Nicht Du allein auch ich bin schuld, Adele. Ich hätte mehr Geduld, mehr Nachsicht mit Dir haben müssen, anstatt Zorn und strengen Befehl.“ Sie sah ihm mit einem unbeschreib¬ lichen Blick in die Augen, ihre Wangen röteten sich. „Ich danke Dir,“ sagte sie herzlich, „ich danke Dir, Erich! Deine Worte erleichtern mir das Scheiden. Also Du wirst nicht mit Zorn an mich denken, wenn wir nun getrennt von einander leben? Seine Arme umschlangen sie mit un¬ willkürlichem Druck, als sie nun strebte, sich von ihm loszumachen. „Adele,“ rief er, „müssen wir uns denn trennen? .... Adele!“ Ein Zucken durchlief ihre zarte schlanke Gestalt; ein Strahl ging über ihr Ge¬ icht, das noch eben von Schmerz und Reue verdüstert gewesen. „O Erich!“ Das war alles, was ihre bebenden Lippen hervorbrachten. „Ja, Adele,“ fuhr er leidenschaftlich fort, „warum denn von einander gehen, wenn jeder von uns seine Schuld ein¬ sieht, wenn wir uns gegenseitig geloben künftig gegen einander duldsamer und nachsichtiger, gütiger und liebevoller zu sein? Wozu uns denn trennen, wenn wir beide darunter leiden werden? Wozu denn einander Lebewohl sagen, wenn wir merken, daß wir uns noch immer lieben daß nach den Irrungen der Vergangen¬ heit vielleicht eine Zukunft voll Friede und Glück und Seligkeit vor uns liegt?

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