Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1901

Rußland. Am 10. Juli 1899 ist der Großfürst=Thron folger von Rußland, Georg Alexandrowitsch, ein Bruder des Kaisers Nikolaus II., ge storben. In den Rang eines Großfürst=Thron olgers rückte damit der dritte Bruder des Czaren Großfürst Michael Alexandrowitsch, der damals im 21. Lebensjahre stand. Ueber den Tod des Großfürsten Georg veröffentlichte der russische „Regierungsbote“ nachfolgende Details „Am 28. Juni a. St. (10. Juli n. St.) um 9 Uhr Morgens unternahm der Thronfolger auf einem Benzinmotor=Fahrrad in Abas=Tuman eine Spazierfahrt. Nachdem der Thronfolger in sehr schneller Fahrt 2 Werft zurückgelegt hatte kehrte er um. Eine des Weges kommende Bäuerin bemerkte nun, wie der Großfürst im Umkehren die Fahrt verlangsamte und Blut spie. Daraus hielt er an und wankte beim Herabsteigen vom Fahrrade. Die hinzueilende Bäuerin stützte den Thronfolger und fragte: „Was ist Ihnen? „Nichts“ antwortete der Großfürst. Als ihm die Bäuerin Wasser anbot, winkte er zustimmend mit der Hand. Sodann ließ die Bäuerin den Thronfolger behutsam zur Erde nieder. Friedlich und schmerzlos trat nun der Tod ein.“ Private, in den „Münchener Nachrichten“ ver öffentlichte Mittheilungen über den Tod des russischen Thronfolgers stellen die Sache etwas anders dar. Nach dieser Darstellung war der Thronfolger am Sonntag in der Früh mit seinem Rade, wie auch sonst oft, wieder in die Berglandschaft von Abas=Tuman hinausgezogen; er fuhr hier einen Abhang so schnell hinab, daß er die Herrschaft über sein Rad verlor, denn er stürzte plötzlich nach rechts und schlug mit dem Rücken auf den Felsgrund, worauf ofort der Blutsturz eintrat, der seinem Leber ein Ziel setzte. * * * Während England in Süd=Afrika, um der Goldminen willen, einen ungerechten Krieg gegen die Buren=Republiken heraufbeschwor, machte Rußland in Persien eine friedliche Eroberung Durch den Abschluß einer von Rußland garan¬ tirten persischen Anleihe im Betrage von 22½ Millionen Rubel wurde nämlich Persien finan¬ ziell und damit auch politisch für unabsehbare Zeit der russischen Interessensphäre einverleibt Die Bedeutung des auf die Anleihe bezüglichen Uebereinkommens zwischen Rußland und Persier wird erst recht klar, wenn man bedenkt, daß nach demselben aus obigem Anlehen alle aus¬ wärtigen Verbindlichkeiten, also auch die Schuld an England, abzustoßen sind, und Persien bis zur Amortisirung jenes Anlehens (1975) ohne Zustimmung Rußlands keine neuen auswärtigen Anlehen machen darf, daß Rückzahlung und Verzinsung des neuen Darlehens durch die per sischen Zölle garantirt sind und daß für den Fall eines Zahlungsversäumnisses das Zollwesen 85 Persiens unter die Controle der russischen Ver¬ waltung gelangen soll. Fügt man hinzu, daß Rußland sich auch das alleinige Recht des Eisen¬ bahnbaues in Persien gesichert hat, so kann es keinem Zweifel unterliegen, daß England durch das russisch=persische Uebereinkommen ein fried¬ liches Sedan erlitten hat, das so Manchem als gerechte Sühne für die von England in Süd¬ Afrika befolgte Gewaltpolitik erscheinen dürfte * * * Die bisherigen, gegen die Selbständigkeit und die verbrieften Rechte Finnlands gerichteten Maßregeln der russischen Regierung haben im März 4900 eine Erweiterung erfahren. Die bisherige Vereidigung der finnländischen Gouver¬ neure auf die Verfassung des Großfürstenthums wurde abgeschafft, auch wird nach erfolgter Demission des langjährigen Ministergehilfen Staatssecretärs General Prokope, welcher das innländische Ressort hatte, und dessen Posten nicht mehr besetzt werden wird, in Zukunft kein hoher finnländischer Beamter mehr das Interesse Finnlands direct beim Czaren vertreten. Weiters wvurden durch ein kaiserliches Manifest vom 20. Juni 1900 Maßregeln bestätigt, durch welche die Einführung der russischen Sprache als Ge¬ chäftssprache im finnländischen Amtsverkehre Staatssecretariat, Kanzlei des Generalgouver¬ neurs, finnländische Paßexpedition in Peters¬ burg mit 1. October 1900, Senat mit 1. Jänner 1903, Gouverneure2c. im internen Verkehre nach oben mit 1. October 1905) und ferner verfügt wird, daß Privatgesuche von allen Be¬ hörden sowohl in der russischen als auch in der Landessprache entgegengenommen werden sollen. Man hat es hier mit einem panslavistischen Seitenstücke der englischen Politik in Süd=Afrika zu thun. * * * Ein schweres Erdbeben, welches an der Jahreswende 1899/1900 den russischen Kaukasus bei Tiflis heimsuchte, zerstörte in den 10 heim¬ jesuchten Dörfern die Hälfte aller Wohnungen wobei 600 Menschen ums Leben kamen. * * * Am 24. Juni 1900 verschied in Petersburg plötzlich der russische Minister des Aeußern, Graf Murawiew. Als Sohn des „Dictators von Wilna“ am 19. April 1845 geboren, wurde er nach dem ebenfalls plötzlich erfolgten Ableben seines Amtsvorgängers, des Fürsten Lobanow, am 13. Jänner 1897 zum Verweser des Mini¬ teriums des Aeußern und am 25. April 1897 zum Minister des Aeußern ernannt.Er war ein aufrichtiger Vertreter der Friedens¬ politik des Czaren und sein Name wird mit der Beschichte der Haager Friedensconferenz unzer¬ trennlich verbunden sein. Mit der Leitung des Ministeriums des Aeußern wurde provisorisch Graf Lammsdorff, der bisherige Stellvertreter Murawiew's im auswärtigen Amte, betraut.

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