Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1901

84 Ländern, so in England, Deutschland und den Vereinigten Staaten von Nordamerika, wurde als Antwort auf dieses Urtheil die Boycottirung der Pariser Weltausstellung ernstlich angeregt. Aber auch die französische Regierung konnte sich der Ueberzeugung nicht entziehen, daß das Urtheil gegen Dreyfus nicht nur an sich selbst widerspruchsvoll, sondern auch mit den Ergeb¬ nissen der Verhandlung in Widerspruch stehe So stellte denn Kriegsminister Gallifet bereits am 19. September beim Präsidenten der Repu¬ blik über Beschluß des Ministerrathes den An¬ trag auf vollständige Begnadigung des Ver¬ urtheilten und noch am selben Tage unter¬ zeichnete Präsident Loubet das diesfällige Begnadigungsdecret. Am 21. September 1899 reier Mann das Gefäng¬ verließ Dreyfus als endlich eine Affaire zum niß und damit war Abschlusse gelangt, welche Frankreich durch Jahre in seinem Innersten aufgewühlt und welche, durch die Art und Weise, wie man das erste Kriegs¬ gericht in ungesetzlicher Weise beeinflußte, um es zu einem schweren Justizirrthume zu verleiten, wie man dann selbst zum Verbrechen griff, um die Gutmachung dieses Irrthums zu verhindern, auf daß nur ja nicht das Prestige Derjenigen welche an dem Rechtsirrthume schuld waren gefährdet werde, eine Schmach für jenes Land bildete, welches so lange an der Spitze der frei¬ heitlichen Bewegung und der Civilisation mar¬ schirte. * * * in der Nacht vom 5. auf den Durch eine in der Station Juvisy der 6. August 1899 Orleans stattgefundene Colli¬ Eisenbahn Paris sion zweier Expreßzüge wurden 17 Personen — Im chwer verwundet. getödtet und73 August 1899 wurde ganz Frankreich durch eine ich im Sudan abspielende Katastrophe in die höchste Aufregung versetzt. Zwei französische Officiere, Capitän Voulet und Capitän Chan¬ oine commandirten im Sudan eine Expedition, deren Spuren durch Mord, Brand und Plünde¬ rungen gezeichnet waren. Oberstlieutenant Klobb, begleitet von Lieutenant Menier, war beauf¬ tragt, diese blutrünstige Mission zu erreichen, zu inspiciren und deren Commando zu übernehmen. Die Capitäne Voulet und Chanoine ließen auf sie schießen und Klobb und Menier fielen, ermordet von ihren Waffenbrüdern Capitän Chanoine ist der Sohn jenes Generals Chanoine, welcher als Zeuge gegen Drey¬ fus in dem Processe des letzteren eine über¬ aus bedenkliche Rolle spielte. — Am 8. März 1900 brannte in Paris das Théätre français (Comédie française), das Haus Molière's, nieder; Fräu¬ lein Henriot, eine junge, schöne und begabte Schauspielerin, fand in den Flammen ihren Tod; die Bibliothek, das Archiv und die großen Kunstschätze des Hauses wurden zum großen Theile gerettet, darunter auch die berühmte Statue Voltaire's von Houdon. Es war ein glück¬ licher Umstand, daß der Brand zu einer Zeit ausbrach, da das Haus, in welchem eine Nach¬ mittagsvorstellung stattfinden sollte, dem Publi¬ cum noch verschlossen war. * * * verschied in Am 19. September 1899 Bagnères de Luchon der Senator Scheurer¬ Kestner. Ein in jeder Richtung ausgezeichneter Mann, ein charaktervoller Republikaner war Scheurer=Kestner einer der wärmsten Ver¬ theidiger der Unschuld Dreyfus', ja Derjenige, dessen Initiative die ganze Revisions=Campagne zuzuschreiben ist, und es war ein seltsames Spiel des Zufalls, daß er gerade an dem Tage für immer die Augen schloß, an welchem sein Schütz¬ ling begnadigt wurde. — Am 21. December 1899 verschied in Paris der berühmte Concert=Director Lamoureux. Er war im Jahre 1834 in Bordeaux geboren und hat wesentlich dazu bei¬ getragen, Richard Wagner in Frankreich ein¬ zubürgern. — Am 28. März 1900 starb der ehemalige Botschafter des Kaisers Napoleon III. in Preußen, Vincenz Graf v. Benedetti; er war der traurige Held der Emser Episode, des Vor¬ spieles zum deutsch=französischen Kriege 1870/71. Am 29. April 1817 zu Bastia geboren, lebte Benedetti seit dem Sturze Napoleon's III. in Italien. — Am 16. Juni 1900 verschied in Paris der Prinz von Joinville, der dritte Sohn Louis Philipp's, im Alter von 82 Jahren. Er war eines jener Mitglieder der Prätendentenfamilien, die stets bereit waren, ihrem Vaterlande zu dienen, unter welcher Staatsform immer, und die durch ihre Abstammung in diesem ihrem Bestreben ich nur insoweit behindern ließen, als es ihnen die Rücksicht auf ihre Familie gebot. Der Ver¬ torbene war auch als Schriftsteller thätig und insbesondere seine auf die Marine bezüglichen Schriften fanden in Fachkreisen große Werth¬ chätzung. England. Auf den Prinzen von Wales wurde, als er auf der Reise nach Kopenhagen am 4. April im Brüsseler Nordbahnhofe eintraf, ein Schuß abgegeben. Der Prinz blieb unverletzt, der Attentäter wurde verhaftet. Dieser, namens Sipido, war ein blutjunges, bartloses Bürsch¬ chen von gutmüthigem Aussehen, welches viel¬ ach mit Anarchisten verkehrte. Am 30. Juni 1900 veröffentlichte die Brüsseler Staatsanwalt¬ chaft die Anklageschrift gegen Sipido und drei Genossen; das Attentat wird darin als anarchi¬ tisches bezeichnet. Die Verhandlung wurde auf Montag den 2. Juli 1900 vor dem Brabanter Schwurgerichte angeordnet. Die Geschwornen bejahten die Schuldfrage, erklärten jedoch zu¬ gleich Sipido für unzurechnungsfähig. Infolge dessen wurden Sipido und die übrigen Ange¬ klagten freigesprochen und sofort freigelassen.

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