Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1897

40 keit sich schiebend und stauend, in gewaltigem Trotz sich aufbäumend und zu mächtigen, weißschäumenden Kämmen auf- richtend. „Zu spät!" stieß Bjarni in wildem Entsetzen hervor und drückte das Antlitz der verzweifelt Aufschreienden gegen sein hämmerndes Herz, das grausige Schauspiel ihrem Blick entziehend, das sich in gigantischer Entwicklung zu furchtbaren Szenen vorbereitete. „Müssen wir nun sterben, Bjarni?" flüsterte sie gebrochen an seine Brust geschmiegt. Stumm preßte er sie heftig an sich und blickte, von Grauen geschüttelt, auf das entsetzliche Bild, das sich unter gesteigertem Getöse immer rasender ent- saltet. Die Hölle schien ihre Orgeln für das Orchester des grausigen Theaters hergeliehen zu haben. Fauchend, brausend, zischend, keuchend, heulend, donnernd aus Millionen Stimmen zu angstgepeitschtem Aufschrei sich formierend, brauste die Furie „Natur" um das gequälte Menschenpaar her, das auf dem schwankenden Boden, der sich krachend hob und senkte, bald vorwärts, bald rückwärts zum Sturz gedrängt, der erbarmungslosen Wütherin hilflos preis- gegeben, sich stumm an einander klammerte. Diesem unvernünftigen brutalen Walten gegenüber, das ihn in gieriger Mordlust angrinste, verwandelte sich sein getretenes Menschenbewußtsein in zornigen Trotz „Helga, wir müssen sterben!" sagte er dumpf und zog die schlaffe Gestalt inniger an sich. Schaudernd zuckte sie zusammen, während die Scholle unter ihnen sich bald vorwärts, bald rückwärts zu immer steilerer Schrägung aufzurichten begann. „Laß uns knien," fuhr er fort und zog sie nieder, „s.o können wir uns länger angehören. Bald müssen wir von einander gehen, Helga, die neidischen Wellen werden uns trennen. In der Tiefe da unten werden unsere Leiber erstarren. Die zwei Herzen, die so gluth- und lebensvoll waren, daß sie Himmel und Hölle zwingen zu können wähnten, dieser süße Leib, den ich so oft in sehnsüchtigen Träumen brünstig umfing, sie sind den finsteren Gewalten unter uns in unvernünftiger Fügung geweiht. Laß mich noch einmal Deine warmen Lippen fühlen nnd vergieb mir, daß ich Dich hierher lockte. Vergieb mir, mein armes sterbendes Glück!" „Mein Bjarni," hauchte sie gebrochen, während ihre Zähne knirschend auf einander schlugen, „sei gesegnet, daß Du mich holtest! Sieh, ich trage dies schreckliche Ende lieber, als daß ich das Leben ohne Dich weiter getragen hätte!" Erschöpft neigte sie das Haupt gegen seine Schultern. Von ihrer Hingabe erschüttert, wollte er etwas erwidern, als die schwankende Unterlage, die sie trug, von einem gewaltigen Stoß erfaßt, fortschleifend gehoben wurde und sich kreisend drehte. Einen Augenblick schien die Scholle in der Luft zu schweben. Bjarni sah den Augenblick gekommen, der ihr tragisches Schicksal besiegelte. Die unterwärts sich schäumend drängenden und aufstauenden Eismassen mußten den Widerstand der Scholle, die ihnen solange Zuflucht ge- währt, endlich besiegen. Aber nochmals hielt sie Stand, glitt in steiler Schrägung abwärts in die Tiefe, zwischen schiebende Eismassen gleitend, hohe Wassermengen zu allen Seiten empordrückend, welche die armen Gequälten mit eisigen Fluthen übergossen. Dann drängte sie ruckweise, die knirschenden Wände der Nachbarinnen zerreibend, vorwärts. Losbröckelnd löste sich 41 Stück um Stück von ihr, bis sie kleiner und kleiner werdend, von den andrängenden Massen zerrieben war. Das zitternde Menschenpaar hatte den Schritt auf eine benachbarte Scholle gewagt und trieb nun auf dieser in schauerlicher Einsamkeit dahin, einer unvernünftigen Gewalt hilflos preisgcgeben, wie das erste Menschenpaar, einer wilden unbekannten Natur. Um Minuten geizend, rettete sich Bjarni init ihr, die stumpfsinnig in seinen Armen hing, von Scholle zu Scholle, bis er eine frei werdende erreichte, die, mit anderen Schollen zwischen Eisbergen fortschwimmend, hinanstrieb in's offene Meer. „Ihre Brautfahrt," flüsterte Bjarni zu der Weglosen nieder. Er war matt in die Knie gesunken und drückte das kalte Antlitz der Geliebten an seine Wange. Das schwer erkaufte Gut in den Armen haltend, blickte er in muth- loser Gebrochenheit durch den dämmernden Morgen hinüber zum westlichen Horizont, wo ein Schiff mit geblähten Segeln dahertrieb. Schottische Schiffer erzählen von einem Menschenpaar, das sie von einer schwimmenden Eisscholle an Bord gerettet. Von Bjarni, der so plötzlich, wie er gekommen, von der Insel verschwunden war, hat man auf Island nichts wieder gehört. Von Helga aber sagt man, sie sei ertrunken. Eine Magd sah sie, in der Nacht, ehe das Eis sich hob, hinuntergehen zum Fjorde.

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