Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1894

82 83 besitzt eine Anzahl einheimischer, alter Special- Industrien, mit denen es sich wohl sehen lassen darf. Aber seine hohen Berge haben auch auf anderen Gebieten den Fortschritt nicht abzuhalten vermochte, dafür bietet die Ausstellung einen neuen Beweis. Handel, Gewerbe und Kunst haben sich mächtig aufgeschwungen, und das Bild dieses Aufschwunges, das die Ausstellung bietet, erhält einen würdigen reizvollen Nahmen durch die Pracht der umgebenden Natur. Wieder ein anderes Bild, ein düsteres: am 18. Juni fanden in mehreren Städten, so in Wien, Brünn, Prag, socialistische Kundgebungen durch Massenaufzüge von Arbeitern statt. Das wäre an und für sich weder etwas seltenes, noch etwas bedrohliches gewesen. Während man sich aber in Wien darauf beschränkte, die Thätigkeit der Polizei auf die unumgänglich nothwendigen Ordnungsvorkehrungen 511 beschränken, ging man in Prag und Brünn mit allzu großer Strenge gegen die Ansammlungen von Arbeitern vor, wodurch diese in einer Weise erbittert wurden, daß es zu einem Handgemenge mit der Polizei kam, bei welchem zahlreiche Verwundungen vor- kamen. Daß die Arbeiter - auch in Ruhe und Ordnung ihre politischen Forderungen aufzu- stellen und für dieselben zu demonstriren wissen, zeigte sich etwa 3 Wochen später — am 9. Juli — bei der Massenkundgebung für das allgemeine Wahlrecht im Rathhause in Wien, bei der es überaus ruhig zuging. In den ersten Sommermonaten dieses Jahres häuften sich in Wien in auffallender und besorgnißerregender Weise Einbruchsdiebstähle, namentlich in Wohnungen solcher Parteien, welche auf dem Lande oder sonst verreist waren. So wurde am 7. Juni die Entdeckung gemacht, daß die Wohnung einer Gräfin Kaunitz in der Spiegelgasse — ganz systematisch ausgeplündert wurde, und am 22. Juni entstand im Schottenhofe in einer wegen Abwesenheit der Miether versperrten Wohnung ein Brand, bei dessen Unterdrückung sich ebenfalls ergab, daß in der Wohnung ein Dieb gehaust haben müsse. Den Bemühungen der Polizei gelang es schon nach zwei Tagen, des Einbrechers und Brandstifters habhaft zu werden. Es war dies der beschäftigungslose Commis Groschl. Derselbe hatte als Muster von Bescheidenheit und Wohlanständigkeit in seiner Umgebung gegolten, war aber einer der sindigsten Gauner, von denen die Verbrecherchronik zu erzählen weiß. Er selbst gestand außer dem Einbruch im Schottenhofe noch mehrere andere, darunter auch den bei der Gräfin Kaunitz ein, ja man hat Ursache zu glauben, daß die Zahl der von ihm verübten Verbrechen sich, auf etwa 40 belaufen dürste. Seine Eltern dienten ihm als Hehler und mit großer Sparsamkeit scharrte er den Erlös seiner Verbrechen zusammen, um eine unabhängige Zukunft zu erringen. Groschl entzog sich dem Arme der strafenden. Gerechtigkeit dadurch, daß er sich im Landesgerichtsgebnüde während seiner Escortirung vom Spaziergaug in die Zelle vom dritten Stockwerke des Stiegenhauses hinab- stürzte. Seine Mutter harrt ihrer Strafe im Gefängniß. Einer der größten Erfinder wurde am 21. Juni gefeiert. Wenn es uns heute möglich ist, die ganze weite Fahrt über den atlantischen Ocean nach der neuen Welt in weniger als einer Woche zurückzulegen, so ist dies das Verdienst eines Genies, das Oesterreich mit Stolz zu den Seinen zählt. Nessel, der Erfinder der Schiffsschraube, der mit einem dürftigen Titel und noch dürftigeren Mitteln dotirt an der Forstschule in Mariabrunn als Lehrer wirkte, ist der Mann, der durch einen einzigen genialen Einfall alle auf der Erde zu durchmeffenden Distanzen verkürzte, die durch Meere getrennten Länder und Völker aneinandergerückt und so den Erdball verkleinert hat. Anstatt der mühsamen Ruderarbeit, anstatt der unzuverlässigen und oft verderblichen Kraft der Winde, anstatt der schwerfälligen, dampfgetriebenen Schaufelräder treibt jetzt eine Schraube, die halb den Flügeln einer Windmühe, halb einem verdoppelten Fisch- schwanze' gleicht, die Riesenfahrzeuge, mit denen wir den Ocean beherrschen, sturmesschnell von Continent zu Contiuent. Es war darin eine verspätete Pflicht der Gerechtigkeit, daß man den hundertjährigen Geburtstag dieses weltüber- windenden Genies in besonders solenner Weise feierte. In Mariabrunn, an der Stätte seiner langjährigen Wirksamkeit, wurde sein Denkmal enthüllt, von der Wiener Technik wurde sein Andenken gefeiert, und das von der Meisterhand Fernkorn's gefertigte Standbild im Resselpark nächst der Elisabethbrücke mit festlichem Lorbeer geschmückt. Am 29. Juni folgte auf den Distanzritt zwischen Berlin und Wien und auf den Distanz- marsch eine Distanzrad fahrt zwischen beiden Städten. Noch größer als bei beiden vorhergehenden Wettveraustaltungen war das Interesse und die Theilnahme der Bevölkerung Wiens. Der Distanzmarsch entbehrte nicht des heiteren Beigeschmacks, der Distanzritt war ein Wettspiel einer bevorzugten, exklusiven Classe, des Officiers- standes, aber der Radfahrersport wurzelt in der Schichte des wohlhabenden oder auch nur anständig situirten Bürgerthums, und unter den Augen dieses breiten und mächtigen Standes ging diese Wettfahrt in Scene. Nicht weniger als 120 Radfahrer aus allen Gegenden Deutschlands fuhren am 29. Juni vom Startplatze in Floridsdorf bei Wien ab. Die Leichtigkeit des Fahrzeuges und der geringe Aufwand an Kraft, der verhältnißmäßig zu dieser Beförderungs- methode gehört, brächte es mit sich, daß die Radfahrer an Schnelligkeit sogar die besten Distanzreiter.weit hinter sich ließen, Als erster langte schon am nächsten Tage der Radfahrer Fischer aus München in Berlin an, mit einer Fahrtdauer, die nicht einmal die Hälfte jener Zeit betrug, welche der beste Distanzreiter zu derselben Strecke brauchte. Er legte die ganze Strecke, zu welcher der Sieger im Distanzritt über 71 Stunden gebraucht hatte, in 31 Stunden und 22% Secunden zurück. Als Zweiter folgte ihm Sorge aus Köln, als Dritter der Oester- reicher Gerger aus Graz. Alle von den RadVorderansicht der H. ü. Koföurg in Wien. 6^S erstaunlichen Leistungen genua an Stelle unmöglich, & äffet bU“6 & das Fahrrad als das Vehikel "bewährt? "'"»Esche Kraft getriebenen Mit dein Ende des Zeitabschnittes, den wir hier zu überblicken hatten, ist auch eines der prächtigsten Bauwerke, nicht nur Wiens, sondern vielleicht des ganzen Continentes zu Ende gediehen. Jener Theil der neuen Hofburg, welcher dem Michaelerplatz und der inneren Stadt zugewendet liegt, ist fertig und wird demnächst dem Verkehre übergeben werden. Mit dem Aus- bau dieses Traetes, wie der Burg überhaupt, wird ein, seit mehr als zweihundert Jahren bestehender, von den: berühmten Baukünstler der Barockzeit, Fischer von Erlach herrührender Plan, in Ausführung gebracht. Fischer, dem ^"»bsc^h wir|

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2