Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1894

84 85 klärte, er sei von der Unschuld Buschhoffs überzeugt. Der Angeklagte wurde denn auch freigesprochen. Aber -die aufgehetzte Menge hatte indessen sein Haus zerstört und seine Habe theils geraubt, theils vernichtet, so daß Buschhoff ein Bettler war. Erst durch Veranstaltung einer Sammlung seitens mehrerer Menschenfreunde wurde der schwer geprüfte Mann in die Lage versetzt, sich eine neue Existenz zu gründen. Am 12. Juli verabschiedete sich der gewesene deutsche Botschafter beim Vatikan, Herr v. Schlözer, beim Papste. Herr v. Schlözer hat es wohl verstanden, die Interessen des deutschen Kaisers im Wege eines freundschaftlichen Verkehres mit dem Vatikan zu wahren. Anfangs August trat Kaiser Wilhelm II. seine Reise nach England an, während welcher er neuerlich Anlaß nahm, die englische Flotte zu besichtigen und deren Großartigkeit kennen zu lernen. Die königliche Familie und die Bevölkerung wetteiferten in Ehrenbezeugungen, und als der Kaiser am 10. August wieder in Potsdam aukam, empfing ihn eine jubelnde Menge, welche sich der-Bedeutung jener Friedensfahrt ihres Kaisers und der ihm auf derselben erwiesenen Ehren wohl bewußt war. Gleichfalls am 1. August begann vor dem Gcschwornengerichte in Stuttgart eine Strafver- handlung, welche weit über die Grenzen des deutschen Reiches Aufsehen machte. Der Haupt- cassier des Hauses Rothschild, Rudolf Jäger, ein Mann, der jahrelang im Amte war und sich immer jenes Vertrauens erfreut hatte, welches die nothwendige Vorbedingung für den Inhaber einer solchen bedeutenden und verantwortungsvollen Stellung ist, stand unter der Anklage, im Laufe der letzten Jahre seinem Hause die Riesensumme von 1,700.000 Mark veruntreut zu haben. Jäger hatte den größten Theil dieser Summe im Börsenspiel verlören — ein neues Opfer der Sucht nach mühelosem Gewinn. Als er Grund hatte, seine nahe Entdeckung zu fürchten, verschwand er mit seiner Geliebten Josefine Klötz. In Alexan- drien wurde er ausgeforscht und nach Deutschland transportirt. Jäger konnte nicht leugnen; er wurde zu zehnjährigem Kerker, seine Geliebte zu dreijährigem Gefängniß verurtheilt. Am 27. August trat der neuernannte italienische Botschafter in Berlin, Graf Lanza, sein Amt an. Anfangs September trat auch in Berlin die Cholera auf. Sie währte wohl mehrere Wochen, doch kamen täglich nur vereinzelte Fälle vor, von denen nur ein geringer Percentsatz tödtlich verlief. Umso schlimmer stand es zu jener Zeit bereits in Hamburg. Bereits um die Mitte August regten sich Gerüchte, daß in Hamburg die Cholera ausgebrochen sei, aber noch am 20. August. wurde das Vorhandensein der Seuche officiell in Abrede gestellt. Da die Gerüchte niche verstummten, reiste am 23. August der berühmte Bacteriologe Koch nach Hamburg und fand wirklich die Cholera asiatica vor. Wien eine Reihe von prächtigen Baudenkmälern verdankt — das Schönbrunner Schloß und die Kartskirche sind wohl die bedeutendsten — konnte nach seinem Plane nur einen, den innern Theil der Burg nach dem inneren Burgplatze zu, ausführen. Nach der innern Stadt zu entsprach nur der runde, kuppelgekrönte Pavillon, unter welchem einst der Eingang ins alte Burgtheater war, diesem Plane. Diesem alten, geschwärzten Theile der Burg sah man es früher gar nicht an, was für ein bedeutendes Kunstwerk es ist. Nun hat Burghauptmann Kürschner nach dem aufgefundenen Plan an der Schauflergasse einen correspondirenden Pavillon erbaut, beide Ecktheile durch eine weite bogenförmige Front mit dreifachem großen Portale in der Mitte, verbunden, und als Bekrönung und Abschluß des Ganzen auf den Mittelrisaliten eine mächtige ragende Kuppel gesetzt. Seit die Gerüste von dieser großartigen Bogenfront gefallen sind, sieht man erst, was für ein prächtiges Werk hier geschaffen ist. Die Säulen, die Kuppeln, die figurenbekrönte Attike, die weiten Thore mit den gewaltigen Heraklesgruppen zu beiden Seiten, .die beiden Brunnen an den Ecken des Gebäudes, alles das macht einen überwältigenden Eindruck. Am stärksten ist dieser Eindruck, wenn man vom Graben her durch den Kohlmarkt auf den Michaelerplatz kommt. Wie mit weit ausgebreiteten Armen empfängt uns der weite, hohe Bau, als ob er symbolisch die Liebe andeuten wollte, mit welcher das Herz unseres geliebten Monarchen alle Völker seines Reiches umfängt. Kaiser Franz Josef I., der Wien in einer Weise verschönert hat, wie keiner seiner Vorfahren, hat durch diesen Bau der Stadt eine neue Zierde und seinem Ruhmeskranze ein neues Blatt eingefügt. Aas deutsche Weich. Auch in diesem Jahre bot das geeinigte Deutschland den Anblick eines in sich gefesteten, für die Ewigkeit errichteten großartigen Baues. Es kann unangenehm berühren und betrüben, wenn der Chronist eine Anzahl von bedauerlichen Ereignissen zu verzeichnen hat, aber dem Bestände des Gebäudes werden auch traurige Einzelnthatsachen nicht gefährlich werden. Gleich zu Beginn des Zeitraumes, den wir vor unserem geistigen Auge vorüberziehen lassen, stoßen wir auf eine nichts weniger als erfreuliche Thatsache. Am 4. Juli 1892 begann nämlich in Eleve der Proceß gegen den angeblichen Mörder Buschhoff. Dieser, ein jüdischer Schächter, wurde von einer fanatisirten Bevölkerung bezichtigt, einen Christenknaben, Johannes Hegemann, meuchlerisch ermordet zu haben. Zuerst hieß es, daß ein Ritualmord begangen worden sei, im Verlaufe der Zeugenvernehmung wurde jedoch häufiger der Verdacht ausgesprochen, daß ein Racheact vorliege. Der ganze Verlauf der Verhandlung aber war ein solcher, daß sogar der Staatsanwalt am Ende derselben erNun steigerte sich die Seuche in fürchterlicher Weise. Am 24. August zählte man 300 Erkrankungen und 120 Todesfälle, am 27. gar 806 Erkrankungen. Monatelang wüthete nun das Unheil, und nur langsam nahm es ab. Gänzlich unvorbereitet und wehrlos standen Bevölkerung und Behörden der Epidemie gegenüber. Man hatte keinen Raum für die Erkrankten. Keine Aerzte, keine Wärter, keine Träger, keine Transportmittel, nicht genügend Desinfectionsmittel. Auf den Gängen der Spitäler lagen und stürben die Kranken, tagelang blieben die Leichen unbeerdigt. Und dabei starben ganze Familien aus, daß der letzte Leichnam nicht mehr agnos- cirt werden konnte; ganze Häuser und Gassen wurden verödet, auf den Straßen, Bahnhöfen, in den TramwayWaggons stürzten Leute, von der Seuche ergriffen, plötzlich nieder. Hamburg wird lange an den Nachwehen dieser schrecklichen Zeit zu tragen haben. Am 13. September wurde die Kaiserin von einer Prinzessin entbunden. Am 17. September erfolgte der Tod des berühmten Rechtsgelehrten Rudolf Jhering. Jhering, der auch durch mehrere Jahre —1868 bis 1872 — an der Wiener Universität gelehrt hatte, war auch über den Bereich der zünftigen Jurisprudenz hinaus wohlbekannt. Seine großen Schriften, als: „Der Zweck im Rechte", „Der Geist des römischen Rechtes" u. a., waren wohl ausschließliches Eigenthum der Juristen, aber mit einer Anzahl populärer Schriften, von denen „Der Kampf ums Recht" am bekanntesten geworden ist, hat er fast das ganze deutsche Lesepublikum erobert. Am 1. October begann der Distanzritt nach Wien, an dem auch Prinz Leopold von Preußen theilnahm. Wir haben über den Verlaus desselben an anderer Stelle gesprochen. Hervor- zuheben ist auch an dieser Stelle die Begeisterung, mit welcher das Unternehmen und die Herzlichkeit, mit welcher die österreichischen Gäste ausgenommen wurden. Das Bankett, das die österreichischen und deutschen Officiere am 12. October in Dresden vereinigte, wurde zu einem wahren Verbrüderungsfeste. Am 11. October unternahm Kaiser Wilhelm II. seine Reise nach Wien. r Am 5. December wurde der antisemitische Parteimann Rector Ahlwarbt, für Arnswalde- Friedberg in den Reichstag gewählt. Diese Wahl war die Antwort der Parteifreunde Ahlwardt's auf die Verleumdungsklage, welche gegen diesen erhoben worden war. Ahlwardt hatte nämlich die Behauptung veröffentlicht, daß die Löweffche Gewehrfabrik unbrauchbare Gewehre für die deutsche Armee geliefert hätte, und die Militärbehörden bei der Uebernahme derselben durch me Fmger gesehen hätten. Wegen dieser „Juden- flrnten -Affaire wurde nun Ahlwardt am 9. December zu einer Gefängnißstrafe von 4 Monaten und zur Tragung der Gerichtskosten verurtheilt. Am 26. Januar fand unter freudiger Theilnahme der Bevölkerung die Vermählung der jüngsten Schwester des Kaisers, der Prinzessin Margarethe mit dem Prinzen Friedrich Karl von Hessen statt. Um diese Zeit weilte der Czarewitsch in Berlin und bei Gelegenheit eines demselben zu Ehren gegebenen Banketts sprach Kaiser Wilhelm einen Toast auf den Czaren, der durch seine freundschaftliche Wärme allgemeine Aufmerksamkeit erregte. Mit der Wende des Jahres trat Deutschland in das Zeichen der Militärvorlage. Schon am 23. November 1892 hatte der Reichskanzler den Gesetzentwurf dem Reichstage vorgelegt, und dieser denselben der Militärcommission zugewiesen. Am 17. März nun lehnte diese die Vorlage in zweiter Lesung mit allen gegen 6 Stimmen ab. Das waren wohl schlimme Auspicien für das Schicksal der Vorlage im Plenum. Indessen wurde für einige Zeit das Interesse der Bevölkerung von dieser Sache abgelenkt. Das war das zweifelhafte Verdienst Ahlwardt's. In der Sitzung vom 20. März kam dieser neugewühlte Abgeordnete ohne zwingende Veranlassung neuerdings auf seinen „Judenflinten" - Proceß zurück, und wiederholte — diesmal unter dem Schutze der Immunität — abermals die Beschuldigungen, wegen welcher seine Verurthei- lung erfolgt war. Reichskanzler Caprivi fertigte ihn in sehr geringschätziger Weise ab, und jeder Andere hätte damit genug gehabt. Nicht so Ahlwardt. Schon am nächsten Tage — ~ am 21. März — nahm er bei Berathung des Etats des Reichsinvalidenfonds die Gelegenheit wahr, die Verdächtigung auszusprechen, daß seitens der staatlichen Functionäre eine schwere Schädigung des in Rede stehenden Fonds zu Gunsten der Börse und der Juden begangen worden sen

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