Gemeinderatsprotokoll vom 29. Dezember 1931

Man preist Steyr so oft als die schöne alte Stadt und nennt es das Schmuckkästlein Oberösterreichs, eine Perle im Kranze der Städte Oesterrreichs. Wie wäre es denn, wenn man einmal einen Elendsprospekt über Steyr verfasste und ihn den Zentralbehörden vorlegte! Oder wenn man so einem verzückten Fremden statt der Höfe, statt des Bummerlhauses und statt der auch schon brüchig werdenden Gotik der Pfarrkirche einmal das mindestens ebenso monumentale Elend in der Stadt schauen lassen würde! Einmal alle Vorhänge wegnehmen und unverhüllt und nakt die Not zeigte. Ich weiss eine Barackenwohnung, das heisst einen Raum in einer Baracke, viermal drei Meter, bewohnt von 7 Personen. Der Boden zerfasert, durchgetreten, sodass zur Sommerszeit das Gras in fast üppiger Fülle aus ihm spriesst. Jedenfalls gedeiht es in der Stickluft von Spülwasser, Menschlicher Ausdünstung und dem Gestank des Waschtroges besser als die fünf Kinder der Familie. Wenn die Frau die Petroleumlampe entzündet und der Raum nun heller wird, könnte der Besucher auch entscheiden, wie es dort aussieht. Zwei Betten, wenn man die sinnvoll gestellten Kisten so nenen will, ein wackeliger Tisch, drei Sesseln mit durchbrochenen Sitzen und weil die Wand an einer Stelle gar zu arg gelitten unter der Nässe, die durch das Dach kommt, hat eine sorgende Frauenhand eine Wanddecke dort angebracht, die in bescheidener Stickerei verkündet: "Hilf Dir selbst, so hilft Dir Gott." Die Selbsthilfe versagt allerdings leider, da der Mann seit Jahren dem tückischesten Feind wehrlos ausgeliefert ist und gegen die Arbeitslosigkeit nichts zu unternehmen vermag. Und wenn in der ganzen Stadt die Lichter verlöscht sind, sitzt in diesem Elendsraum noch die Herrin dieser Wohnung bei der Petroleumlampe und stichelt an einer Stickerei. So wohnen in unserer Stadt Menschen. Warum kündet noch kein Buch dieses grauenhafte Elend. Warum führt niemand die Fremden Besucher unserer Stadt in diese lichtlose, hoffnungsleere Not!

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