Gemeinderatsprotokoll vom 29. Dezember 1920

haben es seit jeher schwer empfinden müssen, weil sie keine Tauschmittel haben, um sich ihre Lebens= und Ernährungs¬ stellung zu verbessern Herr GR. Dr. Peyrer sprach auch von der Geschäftsver¬ teilung; diese Form ist aber bei uns nicht durchführbar, weil venn wir z. B. eigene Referenten für Schulwesen, Armenwesen, ür Straßen, Kanalisationswesen usw. bestellen würden, diese sich mit ihren eigenen Obliegenheiten nicht mehr beschäftigen könnten. Es steht jedem Gemeinderatsmitgliede frei, sich in allen und jeden, wenn es sich interessiert, Einsicht zu nehmen und ich zu informieren. Gerade früher war dies anders, da wußte nur der Referent um die Sache und die Gemeinderatsmitglieder bekammen keine Einsicht. Wir waren immer so anständig und aben nur offen verhandelt und Beamten, wenn sie sich etwas elbständiges erlaubt haben, die entsprechende Rüge erteilt. Schließlich handelten die Beamten immer im besten Glauben, der Gemeinde nur gutes getan zu haben, aber verwahrt haben wir uns gegen Selbständigkeiten immer. Herr GR. Dr. Peyrer wirft uns auch mangelndes Verständnis vor; ich weiß nicht vas man von diesem Vorwurf halten soll Die Not ist da, die Gemeinde kann aus derselben nicht hinaus. Wir sollen im nächsten Jahr mit der Wasserleitung und Kanalisierung beginnen, und die Wohnungsfürsorgefrage ist aktueller wie alles andere. Alle diese Probleme sind von der früheren Gemeindevertretung versäumt worden, sie hatte keinen Vorausblick, hat einfach legmatisch weitergearbeitet und sich um die Interessen der breiten Massen nicht gekümmert Wir mußten in der letzten Zeit etwas kräftiger anpacken und so ist auf der Ennsleite ein neuen Stadtteil entstanden, welcher prachtvolle Straßenzüge aufweist und trotzdem gibt es Leute, die sich darüber aufhalten und ieber die Bewohner dieser Häuser in den alten Straßenzuständen versinken ließen Es ist gewiß auch mir nicht sympatisch mit derartigen Steuervorschlägen kommen zu müssen, aber nennen Sie mir ein Mittel, irgend einen Vorschlag; die Majorität wird Ihnen hie¬ ür sehr dankbar sein, wenn Sie ohne Besteuerung der breiten Massen, die ja doch das Ganze wieder zu tragen hat, im Stande sind, die Gemeindeverwaltung so zu führen, daß wir keine neuen Steuern brauchen. Das kann der Staat, das Land und auch nicht eine Gemeinde. Wir leben in einem Umwälzungsprozeß; wir erwarten vom Staate Zuschüsse aber auf der anderen Seite vill der Staat gewisse Steuerhoheitsrechte nicht preisgeben. Die von uns beantragte Besteuerung liegt aber im Interesse der Erhaltung der Stadtgemeinde und hiezu muß jeder Gemeinde angehörige beitragen. Herr Bürgermeister Wokral: Es ist gewiß gut, wenn gelegentlich der Budgetdebatte eine allgemeine Aussprache statt¬ ndet und ausgesprochen wird, was den einzelnen Herrer Gemeinderäten am Herzen liegt. Es hätte gar keinen Zweck, hierüber etwa böse zu sein; ist etwas vorhanden, was zu rügen verdient, so wird die Kritik es dahin bringen, daß solche Dinge vermieden werden, dann wird, wenn die Kritik gerecht ist, auch nit dieser gedient sein. Kritisieren ist im allgemeinen aber viel eichter, als selbst etwas besser zu machen, und wenn ich hier darauf eingehe, was eigentlich diese Kritik ausgelöst hat, so ist dies der Antrag auf eine 500 prozentige Umlage für sämtlich Staatssteuern. Dazu möchte ich bemerken, daß es bisher immer Gepflogenheit war, daß die Umlagen auf alle Steuern gleick eingehoben werden. Diese Gepflogenhet hat dazu geführt, daß zwischen der Waffenfabrik und der Stadtgemeinde ein Vertrag zustande kam, welcher festsetzt, daß der Gemeinderat in Zukunft keine Klasse von Steuern oder Steuerträgern anders behandelt wird und alle Steuergattungen in vollständig gleicher Weise aufgeteilt werden. Der Wortlaut dieses Vertrages ist bestimmt und so lückenlos, daß sich daran nichts ändern läßt Wir haben widerholt versucht, diesen Vertrag abzuändern oder ihm eine andere Auslegung zu geben; bezüglich anderer Vertragspunkte st uns dies auch gelungen. Es hat uns schon ziemlich viel Mühe gekostet, bei der Waffenfabrik durchzusetzen, daß das Einspruchsrecht der Waffenfabrik bei Aufnahme von Darlehen durch die Gemeinde oder bei Veräußerungen über den Wert von 100.000 Kronen das Einvernehmen der Waffenfabrik einzuholen ist, aufgehoben wurde, und noch mehr Mühe hat es gekostet, die auf 20 Jahre in Geltung gewesene Bestimmung, nicht mehr als 55 Prozent der Umlagentangente auf die Waffenfabrik anzu¬ wenden, zu beseitigen; künftighin wird die Steuer nach dem gesetzlichen Ausmaße auch für die Waffenfabrik vorgeschrieben werden. Bezüglich der Vertragsbestimmung über die Steuer¬ aufteilung ist mit der Waffenfabrik absolut nicht zu verhandeln: sie erklärte, daran absolut nicht rütteln zu lassen. Ein Prozeß würde von vornherein zu Ungunsten der Gemeinde ausfallen. Mit dieser Vertragsbestimmung setzte die Waffenfabrik die Stadt gemeinde in die Tinte. Kurz vor der Beratung des Voranschlages haben wir mit den Vertretern der Waffenfabrik neuerlich ver¬ handelt; die Vertreter erklärten jedoch von ihren eingenommenen Standpunkt nicht abgehen zu können. Die Waffenfabrik fällt ider dabei selbst hinein, weil sie der größte Hausbesitzer in Steyr ist und es ein Unsinn ist, an den Buchstaben des Ver¬ rages festzuhalten, da die Waffenfabrik gesetzlich an die Umlagen leistung auf die Hauszinssteuer verpflichtet ist und sie durch ihr Verhalten die Gemeinde zwingt, auch diese Steuergattung höher zu belasten, als es die Absicht der Gemeindevertretung war. Ich habe gar nichts dagegen einzuwenden, wenn Sie nochmals mit der Waffenfabrik verhandeln wollen; vielleicht kommen die Herren zur Einsicht. Und wenn Herr GR. Dr. Peyrer meint 11 daß Steyr die einzige Stadt wäre, die 500 Prozent Umlagen auf die direkten Steuern einhebt, so muß entgegengehalter werden, daß Steyr die einzige Stadt ist, die einen so dummen Vertrag, wie der bestehende, mit der Waffenfabrik abgeschlossen hat. Es wurde uns auch empfohlen, so wie Wien mit seinen verschiedenen Steuerpräsenten vorzugehen Unsere Verhältnisse lassen sich jedoch mit Wien nicht vergleichen und wäre es z. B ein Schlag ins Wasser, wenn wir eine Steuer für Haushalte mit mehr als zwei Dienstboten vorschreiben würden, weil von einem Steuerertrage überhaupt nicht gesprochen werden könnte. Tatsache ist, daß nicht nur Steyr allein, sondern auch alle inderen Städte und Gemeinden sich in der gleichen schwierigen nanziellen Lage befinden, auch Gemeinden, die keine sozialistische Mehrheit haben. Im allgemeinen ist die Finanzlage der Ge¬ neinden überhaupt nicht mehr haltbar. Auf der einen Seite besteht der Zwang, daß wir uns unter die bestehenden Vertrags¬ estimmung mit der Waffenfabrik beugen, auf der anderen Seite die Klage, daß der Vertrag nicht mehr zu ertragen ist. Sei es velche Steuer oder Umlage immer, so wird es Leute geben, welche die Abgabe leicht leisten und solche, welchen es immer chwer ankommt, die Lasten zu tragen. Was Herr Dr. Peyrer bezüglich der ständigen Referenten agte, wurde bei uns in der Weise gelöst, daß durch die Ver¬ teilung der Referate jedem Gemeinderatsmitgliede Gelegenheit geboten ist, tätig mitzuarbeiten; es tritt also gerade eine volle Informierung der Gemeinderatsmitglieder ein und der Vorwurf, daß der Minorität zu wenig Einfluß auf die Gemeindegeschäft gewahrt bleibt, entschieden zurückgewiesen werden muß. Wir aben nie etwas hinter dem Rücken der Minorität gemacht, pflegen alle Beratungen offen und unsere Debatten im Gemeinde¬ ate beweisen gegen früher, daß nicht mehr nur die Sektion unterrichtet wird, sondern der ganze Gemeinderat. Dies bedeutet entschieden eine Gesundung gegenüber den früheren Zuständen. Der früher geübte Vorgang, daß die ständigen Referenten die Akten mit nach Hause nehmen, darf nicht mehr eintreten, veil Akten verloren gehen können und die betreffenden Beamten dafür verantwortlich sind. Gerade durch den früher geübten Vorgang sind wiederholt Akten unauffindbar geblieben Ich betone nochmals, jedem Gemeinderatsmitgliede und Gemeinde unktionär ist die volle Einsicht und Einflußnahme in den Beschäftsgang gewahrt Als wir seinerzeit im Gemeinderate in der Minorität vertreten waren, wurde uns kühn und protzig erklärt Zwischenrufe: „Dr. Angermann!") „Wir lassen uns icht hineinschauen, das machen wir selbst. Dieser Zustand hat sich bis zum Jahre 19 8 gehalten, von da ab war es erst möglich, mehr Einblick in die wahren Verhältnisse zu erhalten Was die von Herrn Dr. Peyrer betonten Akte betrifft, die hm als selbständig behandelt zu Gesicht kamen, so dürfte hier ein Mißverständnis vorliegen, als es sich nur um Akte handeln kann, die der Magistrat im eigenen oder im über¬ tragenen Wirkungskreis durchzuführen hat. Ein großer Teil davon wurde auch im Präsidium selbst erledigt. Es ist durchaus nichts vorhanden, was zum Vorwurfe einer „Paschawirtschaft erechtigen würde; diesen Ausdruck muß ich mit Entschiedenheit zurückweisen, weil er absolut ungerechtfertigt ist. Im Gegenteil, es kann nicht genug unterstrichen werden, daß wir in Stey Geschäftsstücke im Gemeinderate behandeln, die anderswo gar nicht den Gemeinderat passieren. Wenn von Verlegenheits¬ eferaten und von einer Sauwirtschaft in den Debatten ge prochen wird, so war früher den Gemeindereten, nämlich unserer damaligen Minorität keine Gelegenheit geboten, im emeinderate sprechen zu können, weil man einfach nieder¬ gestimmt wurde. Unsere heutigen Für= und Gegenreden geben allen Gemeinderatsmitglieder die Gelegenheit, die gegenseitigen luffassungen kennen zu lernen. Daß in dr Debatte nur Sach¬ liches gesprochen wird, muß in der Selbstzucht jedes Einzelnen iegen. Daß sich Widersprüche ergeben, bringt die Auffassung elbst mit sich, diese schließt aber keine Einigung aus. Bei bjektiver Beurteilung des heutigen Geschäftsganges muß zuge eben werden, daß sich die Summe der Geschäftsstücke in den letzten Jahren verdreifacht hat und was früher der Gemeinde at in einem Jahre leistete, muß heute dem Umfange nach in wei bis drei Monaten bewältigt werden. Dazu kommt die Schwierigkeit der Verhältnisse Wenn Herr Dr. Peyrer Dinge anführt —welche vielleicht Wahldemagogie sein können — so sollten solche in einem Gemeinderate doch nicht Plaßz greifen. Es wurde angeführt, daß wir für den Eislaufplatz Millionen perpufften und dafür ollen nun 500 Prozent Umlage bezahlt werden, der Blumen¬ chmuck der Bürgerschule habe 300.000 Kronen gekostet usw., so muß darauf erwiedert werden, daß der Eislaufplatz der Gemeine tur einige 30.000 Kronen und der Blumenschmuck nur 3000 Kronen gekostet hat. Und wenn Herr Professor Erb vorsichtsweise in einer Nachbargemeinde dies sagte, was Herr Dr. Peyrer hier agte, mit dem Bemerken, daß er dies in Steyr selbst nicht agen dürfe, weil er sonst Prügel bekäme, so verdient derselbe, venn es wieder sein besseres Wissen gesprochen ist, allerdings nicht physische aber moralische Prügel. Ich möchte mich dafür bedanken, daß unsere Debatte eine Sauwirtschaft ist und verwahre mich ganz entschieden dagegen weil es eine Beleidigung des ganzen Gemeinderates ist, wenn über öffentliche Verhandlungen einer solchen gesetzmäßigen Körperschaft so gesprochen wird und zwar von Männern, die ieser Körperschaft anzugehören selbst die Ehre haben. Ich bitte über die Geschäftsführung des Bürgermeisters sich auszusprechen

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