Adressbuch Wiener Neustadt 1930

43 Munitionsfabriken eine einzige riesige Werkstätte mit Zehntausenden von ständigen Be¬ wohnern. Die lange Dauer des Krieges rief naturgemäß hier rascher als anderswo Krisen hervor, so den Jännerstreik des Jahres 1918. Der Umsturz war furchtbar. mit einem Schlage verloren sich die zahlreichen Truppen und fremden Arbeiter, die Industrie sollte plötzlich ihrem Wesen nach umgekrempelt werden, das Flugfeld wurde auf Grund des Friedensvertrages zerstört, die Militärakademie aufgelöst. Wohl folgte eine Scheinblüte der Inflationszeit. Die Angliederung des Burgenlandes vergrößerte den wirtschaftlichen Umkreis der Stadt. Aber trotzdem befindet sich das groß gewordene Gemeinwesen, das alle Kinderkrankheiten der jungen Demokratie, ohne se in Aufruhr oder Plünderung verstrickt worden zu sein, mitmachte, in einer schwie¬ rigen Lage, die durch die Minderbeschäftigung der Arbeiterbevölkerung infolge Brach¬ liegens oder starker Einschränkung vieler Fabriken und durch die Notwendigkeit, ver¬ schiedene Arbeiten durchzuführen, die für eine Stadt dieser Größe unerläßlich sind Wohn= und Schulbauten, Straßenherrichtungen, Autobusverkehr, Lichtanlagen Kanalisierung u. s. f.) hervorgerufen wurde. Wer aber die Geschichte dieser oft so schwer geprüften Stadt überschaut, wird nicht daran zweifeln, daß sie dieser Krise Herr werden weerde, ihrem seit ältester Zeit unverfälschten Wesen als Verkehrsmittelpunkt und Handels¬ platz und als Industrieort „Allezeit Getreu, Stadtplan und Stadtbild. Dank der Art ihrer Entstehung ist die Stadt äußerst regelmäßig angelegt. An Stelle der einstigen Wälle und Gräben umläuft heute die Ringstraße die Altstadt. Jenseits dieser liegen aus den alten Vorstädten und jüngeren Häusergruppen erwachsene Stadtteile, die heute schon weite Flächen des Steinfeldes bedecken. Vom Pfarrturme oder Rakoczyturme aus kann man die Altstadt gut überblicken, noch besser zeigt ihre Eigen¬ art eine Fliegeraufnahme. Die Altstadt. Ihr Mittelpunkt ist der Hauptplatz, dessen Größe durch den Häuserblock des „Grätz nicht völlig in Erscheinung tritt (an Stelle dieser Häuser lag vor der Stadt¬ gründung eine kleine Der altertümliche Charakter des Fischersiedlung St. Niklas). Hauptplatzes ist an der Rathaus= und Nordost-Zeile am reinsten bewahrt (Laubengänge, zum Teil spätgotischer Bauart, Bürgerhäuser mit laubengesäumten Höfen). Das Aeußere vieler Häuser geht auf die Zeit nach dem furchtbaren Brande von 1834 zurück, ihre Grundzüge sind oft viel älter (manche haben gotische Torgewölbe, früh oder hoch¬ barocke Erker, die Unregelmäßigkeit der Tor- und Fenstereinteilung fällt oft auf, durch Zusammenziehen mehrerer der einst schmalen Parzellen entstanden breitfrontige Häuser, wie sie heute vorherrschen). Seit Aufnahme des Autobusverkehres ist der Hauptplatz Ver¬ ehrsmittelpunkt der Stadt, deren Wochenmärkte sich hier und in der an¬ toßenden Neunkirchnerstraße nach altem Brauche in buntem Treiben abwickeln (Mittwoch und Samstag). Inmitten der östlichen Platzhälfte erhebt sich die Mariensäule, die eigentliche Säule und die ihr zunächst stehenden Figuren errichtete Bischof Leopold Graf Kollonitsch 1678 anläßlich einer Doppelhochzeit im Kaiserhause, Bischof Graf Buchhaim fügte nach Erlöschen der Pest 1714 die äußeren, aus schlechterem Material hergestellten Figuren von lebhafterer Haltung hinzu. Vor der Säule am Rande der Fahrbahn im Pflaster ein Ring mit der Jahreszahl 1522, der an das damalige Blutgericht erinnert. Nach Osten öffnet sich die Ungargasse, altes Eckhaus (Maria Hilf Apotheke mit wuchtigen Lauben und malerischem Hof. Gegen Norden führt die Wienerstraß an der Ecke die alte Kronenapotheke. Am Fischplatze (Nordwest verläßt die Boeheimgasse unter einem Schwibbogen den Hauptplatz, dann gegen Westen die Her¬ Der von hier bis zur Neunkirchnerstraße reichende Häuserblock ist das Rat¬ haus, dessen nach 1834 im klassizistischen Stil neu fassadierter Haupttrakt mit hüb¬ schem, gittergeziertem Balkon das Stadtwappen und am Torschlußstein die Jahreszahlen 590—1615 aufweist. Die Gedrungenheit des Ganzen entspricht dieser Entstehungszeit. Im ersten Stock Stuckdecke mit dem Reichswappen und mehreren anderen von 1615.) Ungargasse, Neukloster. Die Ungargasse erreicht etwa am Beginne des neuen Spitalgartens (auf dem Brunde des einstigen Hafens des Wr. Neustädter Kanals) die Stelle, wo das Ungartor tand. Links Blick auf das ehemalige Karmeliterkloster (Bräunlichfabrik mit aufgehobener) Kirche, welche Anlage an Stelle der mittelalterlichen Deutscherren¬

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