Steyrer Tagebuch Nummer 13, Sommer 1983

1 ichkeit bekäme, seine eigenen Ansichten und Be– dürfnisse. auszudrücken und angehört zu werden. Diese Feststellung hielt die Konferenz zusammen, obwohl eine Spaltung immer noch im Bereich der Möglichkeit lag. 20 Gruppen mit etwa 20-25 Teil – nehmern wurden gebildet, jede erhielt sowohl „Versorger" als auch „Verbraucher", in jeder war ein Mitglied unseres Teams vertreten. Ich erinnere mich noch gut an die Gruppe, in der ich mitarbei– tete. Die Verbitterung der Gruppe war ausgespro- - chen groß. Ihr Ärger über weiße Fachleute, über die Mängel des Gesundheitsdienstes, über ihre eigene Ohnmacht im Hinblick auf die Gesundheitsvor– sorge war so stark, daß einige der Fachleute vor Schreck verstummten, andere selbstgerecht und ärgerlich reagierten. Ein Farbiger, der seinem Haß Luft machte, sagte, daß di~ Marine ihm beigebracht hätte, zu töten und daß er - falls es notwendig würde - dieses Training auch gegenüber Leuten und Einrichtungen wenden könnte, die ihn unter– drückten. Der Wert eines Vermittlers, der die zum Ausdruck kommenden Gefühle verstehen und klä– ren konnte - sogar die sehr bitteren Emotionen der beiden Opponenten - wurde damit überzeu– gend dargelegt. heftigen Äußerungen fanden in einer Atmosphäre statt, in der' jeder einzelne seine Gefühle darstellen konnte, ohne unterbrochen zu werden, in einer At· mosphäre, in der die anwesenden Vermittler ihre Wertschätzung jeder teilnehmenden Person ver– deutlichen konnten; ihr vorrangiges Ziel bestand darin, jeden Gefühlsausbruch zu verstehen und eine offene Kommunikation zu gewährleisten. In die– sem Umfeld konnten die gegenseitigen Stand– punkte größtenteils geklärt werden. Für besonders wichtig halte ich es, daß die teilnehmenden Perso– nen sich als eigenständige und einzigartige Indivi– duen darstellen konnten, jeder mit einer eigenen Ansicht und eigenen Vorschlägen. Die Etikettierun– gen - Schwarz, Weiß, Versorger, Verbraucher, Konservativer, Rad ikaler - begannen zu verschwin- - den. Ganz allmählich kam eine wirklich zwischen– menschliche Verständigung in Gang. Eine überraschende Entwicklung bestand darin, daß die „Verbraucher'', o,bwohl sie sich gegenseitig zuvor gar nicht kannten, miteinander koalierten und wirkliche Führungsrollen übernahmen. Eine farbige Frau mit nur geringer Schulbildung ent– wickelte sich nach und nach zu der stärksten Füh• rerpersönlichkeit, zuerst in unserer Gruppe und ,,Die Konflikte brachen offen auf: Solche zwischen Reichen und Habenichtsen, zwischen Schwarzen und Weißen, zwischen Fachleuten und ahnungslosen Pa– tienten, zwischen Etablierten und den Radikalen; aber diese heftigen Äußerun~ gen fanden in einer Atmosphäre statt, in der jeder einzelne seine Gefühle dar– stellen konnte, ohne unterbrochen zu werden, in einer Atmosphäre, in der die anwesenden Vermittler ihre Wertschätzung.jeder teilnehmenden Person ver– deutlichen konnten." 1m Verlauf der Gruppensitzung ergab sich eine, wenn auch kleine, Annäherung der gegenseitigen Standpunkte. Die weißen Fachleute begannen zu verstehen, wie ihre Tätigkeit von den Klienten gese– hen wurde. Ein Tei lnehmer aus einem Wohnlager, der Krankenversicherungen haßte, begann zu begrei– fen, daß der Vertreter der Versicherungsgesell– schaft in unserer Gruppe nicht durch und durch schlecht war und daß man mit ihm reden konnte. Eine Mischlingsfrau erzählte zum Schluß unter Trä– nen, daß sie sich zwischen Weißen und Schwarzen vollkommen verachtet und schutzlos fühlte. Während unserer Sitzungen brachen die Konflikte häufig offen auf: Solche zwischen Reichen und Ha– benichtsen, zwischen Schwarzen und Weißen, zwi– schen Fachleuten und ahnungslosen Patienten, zwi– schen Etablierten und den Radikalen; aber diese später innerhalb der Gesamtkonferenz. Die „Ver• braucher'' fingen an, Resolutionen zu formulieren.' Ihnen wurde zwar gesagt, daß es die übliche Politik des Council war, keine Resolutionen anzunehmen, daß es sich bei dieser Konferenz ja nur um ein Ge– sprächsforum handelte. Nichtsdestoweniger bestan– den sie darauf. Durch Mehrheitsbeschluß und nach langer und hitziger Diskussion übernahmen sie das letzte Treffen der Konferenz. entließen die Spre– cher mit Dank und trugen ihre Forderungen vor, von denen die meisten gebilligt wurden. Es ist eine letztlich erstaunliche Tatsache, daß während des darauffolgenden Jahres die meisten der Resolutio– nen von dem National Council in Taten umgesetzt wurden. Dies scheint mir ein gutes Beispiel für die positiven Wirkungsmöglichkeiten erfahrener Moderatoren bzw. Vermittler zu sein. Sie akzeptierten zunächst einmal die feindseligen und stark auseinandergehen– den Meinungsäußerungen, von denen ein Teil sogar gegen sie selber gerichtet war; indem die Gefühle ohne Angst vor Sanktionen voll geäußert werden konnten und die anderen Gruppenmitglieder dem– entsprechende Rückmeldungen geben konnten, ver– loren die geäußerten Bedürfnisse ein wenig von ihrer irrationalen Wucht. Nach und nach wuchs die Fäh igkeit, auch andere Aspekte des Themas anzu – hören, zu verstehen und zu akzeptieren. Das Ver– trauen wuchs, sowohl im einzelnen als auch in der Gruppe. Die strittigen Punkte konnten nüchterner betrachtet werden, ohne ein Übermaß an Irrationa– lität. Die Gruppe bewegte sich allmählich auf die Formulierung neuartiger, verantwortungsbewußter und häufig für bisher undenkbar gehaltener Teil– schritte hin, Teilschritte, die nun in einer wirklich– keitsorientierten Atmosphäre diskutiert werden können. All diese Entwicklungen und Prozesse er– eigneten sich in dieser einzigen Konferenz. Mit einer anderen „ Erbfeindschaft" mußte ich mich auseinandersetzen, als ich einmal mit einer Gruppe aus Belfast (Nord-Irland) zu arbeiten hatte. Mitglieder der Gruppe waren fünf Protestanten, darunter ein Engländer, und vier Katholiken. Die neun waren unter dem Aspekt ausgewählt worden, Extremisten und Gemäßigte auf beiden Seiten zu repräsent ieren, Männer und Frauen, Ältere und Jüngere. Bei dem Engländer handelte es sich um einen im Ruhestand befindlichen höheren Offizier. Unsere Gruppe hatte sich die Aufgabe gestellt, direkte Kommunikation zu ermöglichen und die entsprechenden Interaktionen zu filmen. Wir brachten nichts weiter mit als genug Geld, ein lan– ges und intensives Wochenende zu finanzieren. In den ersten Zusammenkünften wurden die Bitter– keit. der Schrecken und die Verzweiflung im All– tagsleben von Belfast durch die Teilnehmer anhand ihrer eigenen Erfahrung überdeutlich gemacht: Die von Bomben zerfetzte Schwester eines Teilneh– mers; eine Familie, die sich hinter Matratzen ver– barg, als Geschosse in ihre Wohnung einschlugen; der Transport von Bombenexplosionen zerrissener Körper, tot oder lebendig; die Brutalität einer bri– tischen Armeepatrouille gegenüber dem minderjäh– rigen Sohn einer der teilnehmenden Mütter. Lei– denschaftlich wurden feindselige Gefühle geäußert. Der ganze undurchdringlich scheinende Strom von Haß und Gewalt. von Furcht und Verzweiflung schien so mächtig zu sein, daß der Gedanke daran, daß ein Wochenende vielleicht eine kleine Verände– rung möglich machen würde, gänzlich utopisch er– schien. 1m laufe unserer Zusammenkünfte waren Haß und gegenseitige Unterstellungen, das Miß- trauen zweier tief verfeindeter Gruppen ständig prä– sent, manchmal in verdeckter Form, nach und nach jedoch immer offener im Ausdruck. Und doch fan– den Veränderungen statt. Die Gruppengespräche dauerten zwar insgesamt nur 16 Stunden, doch während dieser kurzen Zeit konnten die jahrhun– dertealten Feindschaften nicht nur ein wenig herab– gemindert werden, in mancher Hinsicht fanden · tiefergehende Veränderungen statt. Die Fort– schritte waren so rapide, die eintretenden Verände– rungen so bedeutsam, daß einige der Gruppenäuße– rungen aus dem Film entfernt werden mußten; denn ein so deutlich gezeigtes Verständnis für die Position des Gegners würde das Leben der Sprecher gefährdet haben, wenn der Film in Belfast gezeigt werden würde. Das mag wiederum als Beispiel dafür stehen, daß vermittelnde bzw. akzeptierende Ver– haltensweisen eine Atmosphäre schaffen können, in denen Gefühle offen geäußert werden dürfen. Offene Gefühls- und Bedürfnisäußerungen dieser Art führen zunächst zur Kommunikation; bessere Kommunikation führt häufig zu gegenseitigem Ver– ständnis und gegenseitiges Verständnis kann viele der historisch gewachsenen Feindschaften überwin– den. Da wir keine Mittel für weiterführende Veranstal– tungen hatten, traf sich die Gruppe weiterhin in Belfast und bot sich an - zu unserer Überraschung - den während der Tagung entstandenen Film zu zweit (ein Protestant, ein Katholik) in denjenigen Gruppen vorzuführen und zu diskutieren, mit denen sie Kontakt hatten. Die Wirksamkeit dieses Films wird vielleicht am besten dadurch verdeut– licht, daß vier Kopien durch extremistische para– militärische Leute vernichtet wurden, sowohl im katholischen als auch im protestantischen Lager. Sie wollten den Film nicht sehen, weil er zeigte, daß eine Versöhnung möglich war. ,,Sie wollten den Film nicht sehen, weil er zeigte, daß eine Versöhnung möglich war." Ich könnte von anderen konkreten Erfahrungen be– richten, z. B. von dem Workj,hop in EI Escorial in Spanien, zu dem sich 170 Leute aus 22 Nationen versammelten. Politisch und weltanschaulich wur– den die Grenzen durch Marxisten und konservative Kapitalisten gekennzeichnet, durch Geistliche und Atheisten, durch Ältere und Jüngere. Nationale und rassische Feindseligkeiten waren offenkundig, besonders auch Feindsel igkeiten gegenüber der .,imperialistischen Politik" der Vereinigten Staaten. N 0

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