Stand und Ständeordnung im Weltbild des Mittelalters

- 14 - Völker, stellen sich jetzt - und damit tritt der dritte Entwick– lungsfaktor in Wirksamkeit - die geistigen Kräfte, die im welt– anschaulich-religiösen Bereich beheimatet sind. Das Christentum selbst, in dessen Glaubens- und Gedankenwelt die abendländische Kultur gänzlich eingetaucht war, barg von seiner frühesten Jugend an den inneren Widerstreit zweier soziologischer Grund– ideen, ein konservatives und ein revolutionäres Element, zugleich in sich. Auf der einen Seite die erhabene Weltüberlegenheit des Evangeliums, die in einem flüchtig dahineilenden Leben nur die eine Sorge kennt, die Seele zu retten; die in den ersten Jahr– hunderten an aUe Stände und Berufe nur die eine Frage stellt, ob ein Jünger Christi ihnen überhaupt angehören dürfe oder nicht 1 ; die immer wieder dazu ermahnt, die Ordnungen dieser Welt, deren Gestalt vergeht, im Guten wie im Schlimmen ge– duldig hinzunehmen, weil sie die Seele doch nicht berühren, Herrschaft und Gewalt demütig sich zu fügen, weil sie von Gott sind, wo immer sie dem Christen entgegentreten. Daher die Tendenz, überall das Bestehende zu stützen, zu halten und sich hinter jede vorgefundene Autorität und Ordnung zu stellen: ein konservativer, traditionalistischer Zug, der allem ordnungs– widrigen Neuen sich grundsätzlich entgegenstemmt. Nun aber die Kehrseite: dieses Evangelium der Gleich– mütigkeit und Indifferenz begründete seinen Weltverzicht doch zutiefst mit einer anderen Wahrheit, die umgekehrt mit revolu– tionären Energien geradezu geladen war. Es trug den großen Gedanken in die anbrechende abendländische Kulturzeit hinein, daß im Grunde alle Menschenseelen von gleichem Wert und gleicher Würde, alle Menschenkinder in ihrem Wesen frei und gleich seien. Gewiß, das alles zunächst nur vor Gott, zunächst nur innerhalb der religiös-übernatürlichen Ordnung. Aber dieses neue Gottesreich sollte doch auch einmal auf Erden Wirklichkeit werden, und diese Forderung mußte um so dringlicher sich an– melden, seitdem die ersten enthusiastischen Hoffnungen auf sein baldiges endgültiges Kommen zugleich mit der Parusie– erwartung verblaßt waren. Jetzt trat das christliche Persönlich– keits- und Wertbewußtsein aus der geistig-religiösen Sphäre auch in die äußeren irdischen Ordnungen über, um hier hinfort 1 A. Bigelmair, Die Beteiligung der Christen am öffentlichen Leben in vor– constantinischer Zeit, München 1902, 293 ff.

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