Chronik der Stadt Reichenau

Was uns als die Ausbeutung der Leibeigenschaft bekannt ist, stammt fast alles aus der Zeit nach 1648, als die Grundherren alle große Herren sein wollten und bemüht waren, durch Unternehmungen von allerlei Art, z. B. Industriegründungen, neue Geldquellen zu erschließen und einen bisher ungewohnten Luxus nach französischem Muster entfalteten. Da mußten die Untertanen herhalten und alle Leistungen, die nicht ausdrücklich unveränder¬ lich bezeichnet waren, wurden willkürlich erhöht und noch willkürlicher ein¬ getrieben, wozu auch der Umstand beitrug, daß die neuen Herren meist so ausgedehnte Besitzungen hatten, daß sie deren Verwaltung Beamten über¬ lassen mußten. Diese trachteten, ihren Herren durch reiche Erträge zu gefal len und ließen sich außerdem von den Untertanen jede Erleichterung ab¬ kaufen. Damals kam es in unserem Lande zu Aufständen, nach einer rasch unter¬ drückten Auflehnung in der Zwickauer Gegend vom Jahre 1658, die zuerst 1680 große Ausmaße annahmen und gesetzliche Maßnahmen zur Besserung im Gefolge hatten; freilich solche, die ihren der Lage — Robotpatente Zweck verfehlten. Erst Maria Theresia nahm sich der Untertanen energisch an und stellte Mißbräuche ab. Ihr Robotpatent vom Jahre 1775 brachte jedoch keine Zufriedenheit, da es den Hoffnungen der Bauern nicht entsprach. Kaiser Josef II. gab den Untertanen durch die Aufhebung der Leibeigenschaft die Freizügigkeit und freie Berufswahl zurück, wodurch sie die Möglichkeit erhielten, auch gegen den Willen der Erbherrschaft ihr Besitztum aufzugeben und eine Verbesserung ihrer Lage anzubahnen. Die Erblasten waren wie¬ der wie einst nur mit dem Grundbesitz verbunden und wurden mit die¬ —gegenüber denen sem übernommen, nur daß sie—vom Zins abgesehen Erst das Jahr 1848 brachte die Auf¬ im Mittelalter vervielfacht waren. hebung der Erbuntertänigkeit und die Ablösung der Erblasten. Von da an war jeder freier Eigentümer seines Grundes und Bodens und konnte so weit es die Staatsgesetze erlaubten, beliebig damit schalten. Allerdings hatte er auch keine Ansprüche mehr auf die Hilfeleistung der ehemaligen Herrschaft in Zeiten der Not. Aus den alten Obrigkeiten waren ja ebenso private Grundbesitzer geworden wie aus ihren Untertanen. Für die Leistung der Erbschuldigkeiten an die Herrschaft hatte der Dorf¬ richter oder Schulze (Scholze) zu sorgen. Er hob die Erbzinse ein und führte sie ab. Oft haftete er der Obrigkeit dafür. Auch über die Abstattung des „Zehnten“ oder „Dezens“ an den Pfarrer hatte er zu wachen, desgleichen die landesfürstlichen Steuern einzuheben und abzuliefern, die dann die Herr¬ schaft an die kgl. Kammer weitergab Unter seinem Vorsitz wurde unter Mitwirkung der „Schöffen“ oder „Geschworenen Altesten“ im Beisein der Obrigkeit alljährlich, meist dreimal, Gericht gehalten und über Streitfälle sowie geringe Strafsachen entschieden. Die Blutgerichtsbarkeit oblag gewöhnlich den Richtern der nächsten Stadt oder wurde von der Obrigkeit selbst ausgeübt. Das Dorfgericht war meist mit einem Gute und der Kretschamwirtschaft erblich verbunden. Der erste Erbrichter war in der Regel der Ortsgründer, dessen Nachkommen bisweilen durch Jahrhunderte auf dem Kretscham saßen Da die Dörfer bis 1850 auch Wirtschaftsverbände der einzelnen waren, man denke an die Gemeindeweide, die Viehwege („Fiebiege“) unter anderen, so kam den Gerichten höhere Bedeutung zu als den jetzigen Gemeindeämtern. Sie waren auch der Ort, wo alle Verträge abgeschlossen und in späterer Zeit auch verschrieben, d. h. zu Papier gebracht und in die Schöppenbücher ein¬ gjetragen wurden. Vor Richter und Altesten leistete man die aus den Verträ¬ gen herrührenden Zahlungen usw. 23

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