Oberösterreich, 13. Jahrgang, Heft 3/4, 1963

KURT VAN C SA Von der Notwendigkeit einer Handel-Mazzetti-Biographie Unser furchtbares Jahrhundert hat uns einen unheimlichen Scharfblick für das Tierische im Menschen gegeben oder wiedergegeben. Wir können den Bereich des Gebärens und Sterbens, der Libido, der Generations- und Klassenkonflikte, der Existenz- und Machtkämpfe nicht mehr so harmlos sehen und darstellen wie die Biographie des 19. Jahr hunderts und wissen, daß auch der edelste Mensch an diesem dunklen Untergrunde der Welt bewußt oder unbewußt Anteil hat und hatte. Diesem Bereiche vollkommen gerecht zu werden und gleichwohl die immer neu sich bewährende sittliche und schöpferische Kraft des mensch lichen Geistes wirksam zu zeigen ist die schwierige, viel Takt fordernde, aber reizvolle Aufgabe des ernsten modernen Biographen. ...Der Biograph ist gezwomgen, aus dem engen Sektor seiner Fachwissenschaft, so gut es geht, in andere Sektoren und schließlich, am Beispiel seines Helden, in den ganzen Kreis des menschlichen I.ebens vorzudringen. Ein gefährlicher aber gerade in unserer Forschungssituation höchst sinnvoller Weg. Friedrich Sengle Der Erzähl-Raum ihrer Dichtung reicht von Wien über Niederösterreich nach Oberösterreich, greift hinüber nach der Mitte Deutschlands und bis in den Norden hinauf. Der Wirkungs-Raum ihres Werkes erstreckt sich weit über Europa (Ungarn, Italien, Schweiz, Holland, Deutsch land) und nach Ubersee hinaus (Amerika, Japan). Und der Sippen-Raum der Handel und Mazzetti und Csergheö ist ein europäischer (Österreich-Holland, Württemberg, Italien und Südtirol, Ungarn). Wir sind also gezwungen, in Großräumen zu schauen und zu denken, wenn wir das Gesamtwerk und die Persönlich keit der Dichterin würdigen wollen, können aber schon mit historischen, also festgelegten Maßen messen, denn nicht erst seit ihrem Tode (1955) ist die Handel-Mazzetti eine geschichtliche Erscheinung geworden. Geschichtlich ist ihre Herkunft begreifbar und auch das lastenvolle Erbe, das ihr überantwortet wurde; geschicht lich - mit künstlerisch kaum wägbaren, motivisch jedoch aufschlußreichen Ausnahmen! - ist der Stoffbereich ihrer Romane; geschichtlich ist ihre weltanschauliche Haltung im Widerstreit der Meinungen und bereits Geschichte geworden ist schließlich ihre literarische Position. Und diese Position der Handel-Mazzetti in der Geschichte der deutschen Literatur zwischen 1890 und 1930 ist immer hin ungewöhnlich genug, daß die Notwendigkeit einer Biographie kaum einem Zweifel begegnen wird. Ein reiches, zum Großteil noch unerschlossenes Material im Handel-Mazzetti-Archiv der Bundesstaatlichen Studien bibliothek Linz wird zum Teil erstaunliche Aufschlüsse geben können über diesen Sonderfall in einer Epoche der Spätzeitlichkeit des deutsch-österreichischen Geisteslebens. Die über ganz Europa verzweigte Herkunft und das ihr überantwortete Erbe zeigen eine recht bunte Palette, auf der auch die grellen Farben nicht gefehlt haben. Die Um welt kann aus dem fülligen Dokumentenschatz, der Tage bücher, Aufzeichnungen, Briefe, Bilder beinhaltet, in aller wünschenswerten Deutlichkeit eingesehen werden. Vor unsere Augen tritt plastisch eine gehobene Gesellschafts schichte, hohe Offiziere und Beamte seit Generationen, in der im alten Österreich üblichen patriarchalischen Ordnung geschützt, in der lebens- und weltanschaulichen Gebunden heit und Distanziertheit und doch auch Uberzüchtung befangen, den vielfachen Umwälzungen und Umkehrungen der sterbenden Habsburgermonarchie auch anfällig. Man muß versuchen, klar zu sehen, was sich da alles zusammen ballt an widerstreitenden Mächten und in der einen Erbin zu schöpferischer Gestaltung drängt. Dann begreift man auch die Härten und Ubersteigerungen der Bilder und Motive, den oft überspannten Bogen der Konflikte, das überhitzte Wort, die unnatürliche Haltung der Personen, alles das zweifellos vorhandene Negative ihrer Kunst, was die Ablehnung mancher Romane in vielen Leserkreisen verständlich macht. Um so lichtvoller hebt sich die dichterische Kraft des Ge staltens ab, ihr bis in das Detail geschultes geschichtliches Wissen, das feinstnervige Aufspüren des Atmosphärischen, ihre souveräne Beherrschung der Episoden wie der Massenszenen, ihre Meisterschaft in der bildhaften Dar stellung, ihre Hellhörigkeit für den Naturlaut der mensch lichen Sprache, die technische Sicherheit des epischen Verweilens wie der dramatischen Straffung, das hohe Verantwortungsgefühl in d.er oft schmerzlichen Aske.«e des Beschneidens und Feilens -, mit einem Wort das unver wechselbar Einmalige in ihrem Gesamtwerk, das uneinge schränkte Zustimmung und Bewunderung fordert. Eben das, was ihre mitbestimmende Rolle in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende ausmacht. Denn buchstäblich über Nacht reißt Enrica von HandelMazzetti das Steuer an sich und lenkt den bis dahin in seichten Nebenarmen leichtfrachtig dahinplätschernden Kahn der „katholischen" Literatur in den großen Strom der deutschen Dichtung. Es wird sehr anschaulich gezeigt werden können, in wie vielen und nicht ungeschickten Ansätzen die noch sehr jugendliche, aber fraglos überdurchschnittlich begabte Schriftstellerin sich zu ihrem ersten originalen Wurf heran tastet: gewissenhaft durchgearbeitete, flott aber etwas altklug geschriebene Feuilletons, eine Unzahl von Skizzen und Erzählungen, thematisch eintönig, zu frühzeitig routiniert in der Diktion der frommen „Schatzkästlein für höhere Töchter", dagegen die erhitzte Phantasie kon struierter Konflikte zuweilen hart kontrastiert. Aus den wildwuchernden Anfängen läßt sich aber genau der „rote Faden" auffinden und verfolgen vom „Meinrad" bis hin zur „Frau Maria"=Trilogie,zur „Waxenbergerin". Es hebt sich mit wachsender Schärfe sehr deutlich die Grundidee heraus, der ihr gesamtes Werk gedient hat: der Leitspruch des Thomas v. Kempen „Magna res est Caritas" (von der Dichterin selbst in das Schillersche „Sei so glücklich, als du dich erbarmst" [Die Räuber] über tragen!), vorherrschend an dem Beispiel der „heldischen Gottesbrautschaft" in überzeugend geglückten, doch auch mißlungenen Varianten aufgezeigt. (Zur Zeit arbeitet der Enzinger-Schüler Karl Buchberger an einer Untersuchung dieses zentralen Problems.) Man wird in den Mittelpunkt dieser entscheidenden Ent wicklungsperiode unschwer die eigenartig zwielichtige, oft 35

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