7. Jahresbericht der k. k. Realschule in Steyr, 1877

21 „eine und dieselbe Er¬ sagt Wüllner in seiner Experimentalphysik — scheinung kann aus sehr verschiedenen Ursachen hervorgehen, und von diesen möglichen Ursachen müssen wir eine auswählen: nichts bürgt uns dafür, dass wir bei dieser Wahl aus den möglichen U'rsachen die richtige treffen. Wenn wir nicht wissen, dass das Wasser dem Drucke der Atmosphäre aus¬ gesetzt ist, und wir sehen dasselbe in einer luftleer gemachten Pumpe auf¬ steigen, so können wir eine Reihe von Ursachen ersinnen, welche das Auf¬ steigen bewirken. Will man zwischen diesen wählen, so hat man alle Chancen dafür, dass man eine unrichtige wählt. gegen eine einzige, dass man die richtige wählt. Die Geschichte lehrt uns, wie sich die älteren P'hysiker in der That täuschten, als sie annahmen, die Natur habe einen Abscheu vor dem leeren Raume. Da eine Hypothese eine blosse Annahme ist, so gibt es für Hypothesen keine andere Grenzen, als die der menschlichen Einbildungskraft: wir können, wenn es uns beliebt, um einen Grund für irgend eine Wirkung anzugeben, uns eine Ursache von völlig unbekannter Xatur ersinnen. Stimmen die aus dieser Annahme abgeleiteten Erscheinungen mit den wirklich beobachteten überein, so wächst die Wahrscheinlichkeit der Hypothese. Findet sich, dass auch neu entdeckte Klassen von Phänomenen mit dieser Hypothese überein¬ stimmen, so wird sie noch wahrscheinlicher. Verleiht sie aber dem Forscher einen prophetischen Blick. so dass er Phänomene vorhersagt, die noch nie beobachtet worden sind und erweisen sich diese Vorhersagungen beim Ver¬ such als richtig. so wird die Ueberzeugung von der Richtigkeit der Hypo¬ these überwältigend. So wurde die Undulationsbypothese des Lichtes, als Fresnel 1817 durch Rechnung auf dem Grunde dieser Theorie die circulare Polarisation entdeckte, ohne dass Jemand eine Spur dieser Erscheinungen ge¬ sehen hatte, während sie sofort nach der theoretischen Entdeckung durch Versuche Jedermann offenbar wurden, von allen Physikern als zweifellos wahr angenommen. Man ersinnt aber Hypothesen, um die deductive Methode früher, als es sonst möglich wäre, auf die Erforschung der Xatur anzuwenden. Diese Function der Hypothesen ist für die Wissenschaft unentbehrlich. Ohne solche Annahmen hätte die Wissenschaft nie zu ihrer gegenwärtigen Höhe gelangen können. Fast alles. was jetzt Theorie ist. war einst Hypothese. Dass z. B. die Erde ein Magnet ist. war ursprünglich eine Hypothese Gilbert's. Die Frage aber: Soll man auf der ersten Stufe der elementaren Be¬ bandlung der Physik bis zu den Hypothesen hinaufsteigen? muss verneint werden. Weder in der Volksschule noch in den Unterklassen der Mittelschule ist auf das Wesen der Hypothesen einzugehen. Die Schüler dieses Cursus sind für die Ableitung der Haupterscheinungen aus der eigenthümlichen Be¬ schaffenheit einer Naturkraft noch nicht reif. Ferner fördert die Bekannt¬ schaft mit den Hypothesen weder den formalen noch den materialen Zweck des Lernens der Physik.

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