Zum 100. Geburtstag von Enrica Handel-Mazzetti

wieder, und so auch in -dem Jugendroman „Brüderlein und Schwesterlein", der eine lange Entstehungsgeschichte hat. Denn das Buch wurde noch vor dem „Meinrad" Ende der neunziger Jahre als größere Erzählung im Anschluß an die Wiener Ge- schichten konzipiert, aber durch den „Meinrad" dann verdrängt. 1909 wieder auf- gegriffen und zum Teil in der katholischen Zeitschrift „über den Wassern" ver- öffentlicht, dann neuerdings zurückgestellt, wurde es erst nach dem 2. Band der „Stephana" 1913 als Buch herausgegeben. Es erregte zunächst Befremden, man hielt es für einen Rückschritt, was es literarisch auch tatsächlich war. Doch ließ sich das durch die Art der Entstehung erklären, denn Handel-Mazzetti legte nun wohl nur mehr die letzte Hand an den Roman. Nach den Erfolgen von „Jesse und Maria", besonders aber der „Armen Margaret" bemühte man sich um weitere Erzeugnisse ihrer Feder und die Dichterin gab nur zu bereitwillig Dinge preis, die besser für später zurück- gehalten worden wären. So kam es ja auch zu der für den Literarhistoriker sicherlich sehr interessanten und dankenswerten Veröffentlichung jener unreifen Jugendarbeiten, die Johannes Eckhardt unter dem Titel „Handel-Mazzettis Geistige Werdejahre" (1911 und 1912) in zwei Bänden herausgab. Das mußte einen falschen Eindruck erwecken und mißverstanden werden und schadete dem künstlerischen Ansehen der Dichterin sicherlich. Ähnlich steht es mit „Brüderlein und Schwesterlein", das schon 1898 begonnen worden war, also eigentlich eine längst überholte Entwicklungsstufe darstellt. Die Arbeit lag Handel-Mazzetti aber am Herzen, weil sie viel enthielt, was ihre eigene Jugend betraf. Der Verleger drängte und so erschien als erstes Buch der Rita-Romane 1913 dieser Wiener Gesellschaftsroman, in der Sprache der Gegenwart geschrieben. Er bildete die Grundlage der weiteren Rita-Bücher. Rita, die Tochter eines reichen Wiener Fabrikanten Kürschner, ist im Kloster Marien- fried erzogen worden und wird, nach Hause zurückgekehrt, nun von der Mutter in die Wiener Gesellscha ft eingeführt, um möglichst bald verheiratet zu we1.1den. Aber sie ist sehr zurückhaltend und möchte ein verinnerlichtes Leben führen, was ihr nicht er- möglicht wird. Denn die Mutter hat für sie ,schon einen Bräutigam ausersehen, einen höheren Ministerialbeamten. Auch der Sohn des Hausportiers, der in der Kindheit ihr Spielgefährte war (,,Brüderlein und Schwesterlein" nannten sie sich), liebt sie. Rita findet sich in dieser für sie völlig fremden Welt äußerlichen Glanzes und ,sinnlosen Treibens nicht zurecht. Immer wieder flüchtet ,sie sich in die Innerlichkeit und in klöster- liche Erinnerungen. Der Großvater, der von Brünn nach Wien kommt, ist von seiner Enkelin entzückt und will sein Testament zu ihren Gunsten ändern. In einem berüchtig- ten Haus wird er vom Schlag getroffen und sterbend in Ritas Vaterhaus gebracht, wo es dem Mädchen gelingt, ihn, den gottlosen Lebemann, mit der Kirche zu verisöhnen. Nach seinem Tod wird ·sein Testament von den Erben angefochten, wobei der als Bräutigam in Aussicht genommene Ministerialbeamte eifrig mithilft . Als er um Rita wirbt und in Schmähungen gegen das Kreuz ausbricht, das Rita über alles heilig ist, klammert sie ,sich an das -schwere Kruzifix, das herabstürzt und sie zu Tode trifft. Zur gleichen Zeit erschießt sich ihr „Brüderlein" in ·der Portierloge, im Glauben, Rita sei ihm für immer verloren. In dieser ganzen Geschichte lebt nur die Gestalt der Rita, alles a ndere ist Konvention, Kliche. Und auch bei Rita ist die Gefahr einer einseitigen Obersteigerung, die Gefahr der Versüßlichung nicht immer vermieden. Es war aber eben nur diese Gestalt eines jungen unveridorbenen Mädchens, die interessiert, eines harmlosen Geschöpfes, das aus der Geborgenheit des Klosters in die Welt gestürzt wird und sich wehrt und sich zu bewahren sucht, bis ein gnädiger Tod sie in Reinheit erlöst, auch sie eine kleine Martyrin und Gottesbraut. Aber konnte man, was im Innern einer s olchen Seele vorgeht, in der üblichen Romanform darstellen? Brauchte es dazu nicht eine Form, die die Selbstmitteilung, ,die Erschließung des Inneren mehr erlaubt als der Roman, der ja von jemand erzählt wird? Offenkundig fühlte sich die Dichterin selbst von ihrem Werk nicht befriedigt, weil es nicht das erreichte, was ihr vor Augen schwebte : Die Darstellung des Inneren einer solchen Seele im Zwiespalt, so daß äußeres Geschehen nur Anstoß für inneres Leben wird. Ganz folgerichtig machte Handel-Mazzetti nun den an sich kühnen Ver.such, den gleichen Stoff nur aus dem Blickwinkel der Heldin darzustellen, wofür sich zwei Möglichkeiten boten: Das Tage- buch als Selbstbekenntnis oder der Brief als Mitteilung, als Beichte jemand Vertrautem gegenüber. Die Dichterin hat diese zweite Form ,gewählt, diese Form aber kompliziert 30

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