Zum 100. Geburtstag von Enrica Handel-Mazzetti

und das ganze dadurch motiviert, daß sie Rita diese Briefe an ,die Oberin des Klosters schreiben läßt, in dem sie elf Jahre verbracht hat (Ritas Briefe} 68 • Da aber auf die letzten Antwortbriefe der Oberin von Rita keine Antwort mehr erfolgt, wird an- genommen, daß auch Rita dem Ansturm der Welt erlegen is t. Der Beichtvater der Klosteroberin befiehlt der Nonne, die Briefe zu verbrennen. Und nun liest die Oberin diese Briefe vor der Vernichtung nochmals durch ; als ,sie die Lektüre beendet hat, kommt Ritas Vater ganz verstört und berichtet in einer erschütternden Szene den Unfall, der Rita getötet hat. Mit den Toteng,ebeten pro defuncta Margarita schließt das bemerkenswerte Buch. Es ist sicher nicht jedermanns Sache, sich um die Seelenschicksale der kleinen Rita zu kümmern, sowie ,sicherlich auch nicht jedermann die Art dieses jungen Mädchens ver- stehen wird, das eine Idealschöpfung Handel-Mazzettis ist und gewiß viel Selbst- erlebtes und Eigenes offenbart. Diese Rita ist nicht für die Welt geschaffen, und ob- wohl sie überall ihren Glauben verteidigt, ,selbst auf die Gefahr hin, lächerlich zu wirken, ist ·sie ein verinnerlichtes Wesen und keine Kämpfernatur. Aber wie dem auch sei, Rita ist eine Zentralfigur unter den Gestalten Handel-Ma zzettis und stellt eine Art Typus dar, der in Abwandlungen nicht nur seine Vorläufer, sondern auch seine Nachfolger hat in Else Walch (Sand-Roman), Mariechen v. Bronnen ( 11 Frau Maria"), ja, man wagt •es kaum auszusprechen, in der 11 Waxenbergerin" und schließlich ·sogar in dem eigensinnigen Fratzen Cornelia de Vry in 11 Graf Reichard". 11 Ritas Briefe" spielen vom 9. Juli 1898 bis 17. April 1899 und schließen mit dem Morgen des 29. Mai 1899. Der Rahmen konzentriert .das Ganze in zeitlichem Sinne dadurch, daß die Lektüre im Laufe einer Nacht vorgenommen wird. Entscheidend aber ,scheint doch die künstlerische Bewältigung des etwas spröden Stoffes zu ·sein. Denn da nun nicht nur alles aus der Perspektive Ritas erzählt wird, sondern aus ihrer Seele heraus, so ergibt sich die Selbstoffenbarung einer jugendlichen Mädchenseele, wie sie in der Dichtung nicht zu oft begegnet, wenngleich manches gefährlich an Unkunst, um nicht :mi sagen an Kitsch grenzt. Die letzten Seiten aber verraten wieder ,die Stärke der Künstlerin und man wird ·sie nicht ohne Ergriffenheit lesen. Das Experiment selbst, die Darstellung derselben Ereignisse ,aus verschiedenen Blickwinkeln der Beteiligten, erinnert an Hermann Stehrs 11 Heiligenhof", 11 Drei Nächte" und 11 Peter Brindeisener". freilich, die Wirkung von 11 Ritas Briefen" lag weniger im Künstledschen a1s im Sittlichen 69 , sie hätten manchen vor moralischer Entgleisung bewahrt. Die Gestalt Ritas ließ aber ihre Schöpferin nicht los. Nochmals wird ,sie beschworen in dem etwas fragwürdigen Roman 11 Ritas Vermächtnis" (1922). Das neue Buch knüpft an die moralische Wirkung von 11 Ritas Briefen" an. Die Freimaurer wollen sich dieses Schatzes, der im Kloster Marienfried in St. Yp aufbewahrt wird, bemächtigen, um seinen Einfluß zu vernichten. Dazu wird bei einer geh,eimen Freimaurertagung in Wien der Sohn eines amerikanischen Milliardärs Golf Boscori ausersehen, der als Priester verkleidet die Briefe ·an ·sich bringt, auf dem Rückweg aber von einem alten Geistlichen gestellt wird, den er kurzer-hand niederschießt. Golf liest die geraubten Bri.efe, findet dazw1schen ein Bild der toten Rita und wird davon so berührt, daß er die Briefe nicht ausliefert, ,sondern wieder nach Marienfried zurückbringt, wo er sich zu erkennen gibt. Er teilt das der Loge mit, wird nun als Verräter tödlich verwundet und stirbt gläubig, nachdem ihn der Bischof von St. Yp auf sein reumütiges Geständnis hin noch getauft hat, also wieder eine Bekehrung. Das 1spannend geschriebene Buch verwendet bedenkenlos Motive des Kriminalromans, sucht aber auch metaphysische Gestalten, wie den Satan als Dr. Stana, vorzuführen, was mißlingt, wenn man Ähn- liches in Dostojewskis 11 Karamasofrs" oder in Thomas Manns 11 Doktor Faustus" oder bei Bernanos zum Vergleich heranzieht. Handel-Mazzetti hat selbst erkannt, .daß ihr das Modeme nicht liege 7°. Je näher ,,sie in der Wahl ihrer Stoffe der eigenen Zeit kommt, umso flacher und konventioneller wird ihre Sprache, umso bedenklicher ihre Erfindung. Sie braucht das historische Kolorit, um zu wirken. Denn manches krasse Motiv wirkt im geschichtlichen Roman, durch die Zeitver1hält- nisse bedingt, nicht ,so stark, was im Gegenwartsroman, wenigstens zur Zeit um 1900, unglaubhaft wird und den Mitteln des Abenteurerromanes und Verbrecherromans nicht allzu fern steht (A. Dumas, E. Sue, selbst Balzac). Die Freimaurerpartien stützen 31 sich in vielem auf das W,erk 11 A study in American freemasonery, based upon Pieke's

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